Schreibstunden – 12 Lektionen für Text-Arbeiter

Lektion 2: Spannend erzählen

Ziel der 2. Schreibstunde
Spannung erzeugen und den Leser davon überzeugen, dass er etwas versäumt, wenn er nicht weiterliest.

Der Ritter und die Magd

„Ich war neulich in der Ostprignitz, in Kampehl. Hübsch dort. Der Legende nach soll hier ein Ritter mumifiziert worden sein.“

Spannend?  Oder? Oder möchten Sie lieber diese Version lesen?

Er war nicht edel, dieser edle Ritter Kahlbutz aus Kampehl.
Weil ihm das „Recht der ersten Nacht“ bei seiner Magd verweigert worden war, erschlug er deren Bräutigam. Das behaupten alle. Doch Ritter Kahlbutz beteuerte immer wieder seine Unschuld. Vor Gericht soll er gesagt haben: „Wenn ich doch der Mörder bin gewesen, dann wolle Gott, soll mein Leichnam nie verwesen.“
In der Dorfkirche von Kampehl können Sie nachschauen, wie Gott sich entschieden hat.

Dosiert informieren

Eine Geschichte ist spannend, wenn man wissen will, wie es weiter geht, wie sie endet. Spannung wird also erzeugt, wenn dosiert Informationen gegeben und andere vorenthalten werden. Aus der Diskrepanz von Wissen und Nichtwissen entsteht der Wunsch, alles oder doch zumindest mehr wissen zu wollen. Der englische Literaturwissenschaftler, David Lodge, brachte es auf eine einfache Formel:

“Romane sind Erzählungen, und Erzählungen, egal in welchem Medium – Wort, Film, Comicstrip – fesseln ein Publikum dadurch, dass sie Fragen aufwerfen und die Antworten hinauszögern.“[1]

Spannungs-Elemente

Sol Stein hat in seinem Standardwerk „Über das Schreiben“[2] vier Elemente aufgeführt, die geeignet sind, Hochspannung zu erzeugen:

1. Es muss etwas Gefährliches getan werden. Ein Sprengstoffexperte versucht einen Blindgänger zu entschärfen. Seine kleine Tochter sieht aus der Ferne zu. Mit jedem Handgriff, den der Autor schildert, steigt die Nervosität, die Angst um Kind und Vater.

2. Ein bedrohliches Ereignis naht.  In dem Drohbrief steht, dass es um 6 Uhr passiert. Es sind nur noch Minuten, aber die Polizei ist immer noch nicht eingetroffen…

3. Eine Begegnung der beunruhigenden Art. Sie fahren mit dem Aufzug in den 10. Stock. Im achten Stock steigt ein anscheinend psychisch gestörter Mann in den Lift ein.

4. Ein Gegner wird in die Enge getrieben. Ein Löwe ist ausgebrochen und treibt sich nun in einer Vorort-Siedlung herum. Nur ein alter Mann besitzt ein Gewehr, mit dem man den Löwen töten könnte. Der Löwe kauert hinter einem Gartenbusch. Eine Frau mit Kinderwagen spaziert ahnungslos vorbei. Der alte Mann schießt. Der Löwe blutet und brüllt auf vor Schmerz und Zorn.

Der erste Satz

Der erste Satz ist die „Rutschbahn“ in die Geschichte, er ist entscheidend dafür, ob der Leser seine Zeit für Sie opfert. Mit etwas Glück findet der Leser die Erzählung so spannend, dass er sie nicht mehr aus der Hand gibt, bis er die letzte Zeile gelesen hat.

Heinrich Heine (1797- 1856) wusste, wie man den Leser ködert:
 „Als meine Großmutter die Lise behext/ Da wollten die Leut sie verbrennen.“[3]

Nur zwei Zeilen aus dem „Lied des Gefangenen“, aber welch eine Geschichte lässt das erwarten?

Hemingway spielt in „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“ mit einer scheinbar alltäglichen Situation, um die innere Alarmanlage seiner Leser auszulösen:

          Es war Essenszeit und sie saßen alle unter dem doppelten grünen Sonnendach des Speisezeltes und taten, als sei nichts passiert.[4]

Über der Jagdgesellschaft liegt der Schatten eines offenbar gravierenden Ereignisses, das nicht näher beschrieben wird und genau deshalb neugierig macht.

Andeuten, versprechen, verzögern: Auch „In einem anderen Land“ nutzt Hemingway diesen dramaturgischen Kunstgriff:

          Es war immer noch Krieg im Herbst, wir machten aber nicht mehr mit.[5]

Den Köder auswerfen

Der erste Satz soll wie ein Lockruf sein: Folge mir in die Geschichte. Ich verspreche dir Wissen und Erkenntnis, Spaß und Spannung und Antworten auf Fragen, die du dir schon immer gestellt hast. Oder die dir nie eingefallen sind.

Wir werfen mit dem ersten Satz einen Köder aus und hoffen, dass der Leser anbeißt. Beispiele:

  • Neugierde durch vorgezogenes Fazit

Erfahrung macht klüger, aber auf diese „Erfahrung“ hätte ich gerne verzichtet

  • Mit Vorurteilen operieren

Was ist dran am Räuber-Image der Polen? Wir wollten es genau wissen und fuhren mit einem 6er BMW-Cabrio durchs Land.

  • Rätsel aufwerfen, Fragen stellen

Er ist seit drei Jahrhunderten tot und immer noch nicht verwest. Was ist das Geheimnis des Ritters Christian Friedrich von Kahlbutz?

  • Außergewöhnliches Versprechen

Warum ist die Weißwurst eigentlich so beliebt? Liegt es an dem, was drin ist?
Wenn Sie ein Weißwurst-Fan sind, lesen Sie lieber nicht weiter. Der Bissen könnte Ihnen sonst im Halse stecken bleiben.

  • Verzögern – Zappeln lassen – an der spannendsten Stelle abbrechen
    Möchtest du meine Frau werden, Laura?  Laura schaut tief in Peters Augen.
    Szenenwechsel: Peters Bruder, Karl, öffnet die Schublade an Vaters Schreibtisch. Ein Brief.

Keine Angst vor dem „Lead“

Journalisten nennen den ersten Satz eines Berichts den „Leadsatz“; vom englischen
 „to lead“ leiten, münden, führen. In diesem Satz steckt der wichtigste Aspekt der Nachricht, die neueste Entwicklung, das Urteil, das Ergebnis und natürlich soll das Lead auch neugierig machen, zum Weiterlesen animieren. Also alles, was auch unser erster Satz leisten muss:

  • Er macht neugierig, animiert zum Weiterlesen, weil er eine interessante Frage aufwirft, weil es um einen bewegenden Konflikt geht oder, weil eine aufregende Person skizziert wird.
  • Er verspricht etwas Ungewöhnliches, Schockierendes, Überraschendes
  • Er enthält eine unerwartete Erkenntnis oder Formulierung, wie beispielsweise bei George Orwells Ghandi („Heilige sollte man immer für schuldig halten, solange nicht ihre Unschuld erwiesen ist.“)
  • Er führt mit einem bildhaften Element in die Geschichte ein (z.B. Alle Raucher werden schlank. Früher oder später)
             

Weil jeder um die Bedeutung des „ersten Satzes“ weiß, verkrampfen viele Autoren und scheitern bereits an dieser ersten Hürde. Das muss nicht sein. Oft hilft es, den Einstieg zunächst einmal nur anzudeuten und  ihn erst – wenn alles geschrieben ist – mit  Ihrer feinsten Feile zu bearbeiten.

Schnell auf den Punkt

Der schönste erste Satz hilft nicht lange weiter, wenn Sie dem Leser nicht vermitteln können, warum diese Erzählung ihn interessieren und unterhalten könnte. Im Filmgeschäft haben Sie angeblich acht Minuten Zeit, um den Zuschauer zu überzeugen, dass er im „richtigen Film“ sitzt. Wenn Sie das nicht schaffen, schaltet er ab oder (bei TV) um. Machen Sie doch einmal einem Selbstversuch.

Deshalb: Möglichst rasch auf den Punkt kommen und klar stellen, was den Leser erwartet, um was es geht, was den Protagonisten bewegt, wie der Konflikt sich entwickeln könnte.

Aber Achtung, Sie sollen nur andeuten, Spannung aufbauen und die Antworten hinauszögern. Mehr wäre von übel.

Mit-Leid(en)

Und dann ist da noch die Sache von dem „Mit-Leid(en)“. Wenn uns der Held der Geschichte nicht anrührt und uns der Bösewicht nicht wütend macht, dann läuft vermutlich die ganze Story an uns vorbei. Warum in aller Welt sollten wir auch etwas lesen über Menschen, die uns gleichgültig sind und etwas erleben, das uns nicht interessiert?

Die Spannung entsteht, wenn wir uns für eine Seite entschieden haben und mitleiden, mit- fiebern können. Und wen die Figur dann auch nur „menschlich“ ist, Schwächen hat (wie wir auch), die sie im Laufe der Geschichte überwindet, dann ergibt sich die Identifikation fast von selbst.

Bond und Harry Potter

Wir zittern mit dem Guten und fürchten uns vor dem Bösen. Wir leiden mit Winnetou und verfluchen Santer, den Mörder von Intschu tschuna und Nscho-tschi. Wir vertrauen auf James Bond und haben trotzdem Zweifel, ob der Super-Bösewicht Blofeld, „Nummer 1“ der Terrororganisation „SPECTRE, nicht doch noch die Welt zerstören kann, wir bangen um Harry Potter im Kampf gegen den dunklen Lord „Voldemort“ und seine „Todesser“; auf dass die Macht nicht auf die dunkle Seite wechselt. Außerdem ist es ja auch interessant zu erfahren, wie die Guten, denn dieses Mal wohl den Bösen ein Schnippchen schlagen können.

Der Konflikt, seine „Fallhöhe“, seine Plausibilität, seine Emotionalität treibt Protagonist und Antagonist gegeneinander, fordert unser „Parteilichkeit“, unsere Sympathie oder Antipathie für die Figuren heraus.

Fallhöhe: „Tragisch erschüttern“

Bauer Bernhard weiß nicht mehr weiter. Seine Kate ist abgebrannt, seine letzte Kuh verendet, seine Kinder hungern. Schlimm, aber „tragisch erschüttert“ worden, wäre der Philosoph Arthur Schopenhauer von diesem Schicksal wohl nicht.

 „Die Umstände“, „argumentiert er, „welche eine Bürgerfamilie in Noth und Verzweiflung versetzen, sind in den Augen der Großen (Adeligen) und Reichen meistens sehr geringfügig.“ Also, kaum der Rede wert und schon gar nicht tauge das Problem als Stoff für einen Roman. Soll sich Bernhard doch einfach eine neue Kuh kaufen oder Kuchen essen, wenn er kein Brot mehr zum Beißen hat. „Bürgerlichen Problemen fehle es demnach an Fallhöhe“, schreibt der Denker.

Schopenhauers Fallhöhe

Schopenhauer hat den Begriff der Fallhöhe 1819 in Deutschland eingeführt[6] und für die Adeligen und Reichen dieser Welt reserviert. Nur deren Probleme seien es wert, auf der Bühne präsentiert zu werden.

Dem Bauern könnte – so man es denn wollte – geholfen werden, dem König nicht. Blaublütige müssten ihre Probleme selbst lösen oder – untergehen. Der Sturz vom Thron hat eine erhebliche Fallhöhe, der Sturz vom Melkschemel sei dagegen nicht der Rede wert.

Diese Auffassung hat Tradition; eine lange Tradition. Schon Aristoteles hat in seiner Lehre der Dichtkunst („Poetik“, etwa 335 vor Chr.)  gefordert, dass in einer Tragödie nur Konflikte und Probleme einer höherrangigen (guten) Person dargestellt werden sollen. Die Probleme niederer (schlechter) Menschen hätten bestenfalls in der Komödie Raum.  Dieses Prinzip (Ständeklausel genannt) galt bis zum 18. Jahrhundert.

Bürgerliches Trauerspiel

Erst in den Epochen der Aufklärung und Romantik entdeckten Dramatiker, dass auch die Schicksale „gewöhnlicher Menschen“ spannend und aufschlussreich sein könnten. Das „bürgerliche Trauerspiel“ [7]eroberte die Bühne. Allmählich wurde beispielsweise auch dem Fall eines „gefallenen“ Mädchens eine gewisse Fallhöhe zuerkannt, wenn es gesellschaftlich geächtet und verstoßen wird.

Aber gleichgültig, ob König oder bürgerliche Geliebte, Räuber oder Fabrikbesitze Heilige oder Hure – je größer der Konflikt, je extremer das Ausmaß der Katastrophe – desto erregender und spannender die Geschichte. Das Figuren-Tableau mag wechseln, die Fallhöhe bleibt ein zentrales Element der Dramaturgie.

Ausmaß der Katastrophe

Die Fallhöhe beschreibt das Ausmaß einer Katastrophe: Die Spanne reicht vom sozialen, materiellen oder emotionalen Ausgangspunkt bis zum Zustand, in dem sich der Held nach der Katastrophe befindet.

Beispiel: Paul P. ist ein angesehener Politiker, kompetent und moralisch integer. Sein tiefer Fall beginnt als er bei einer Dienstreise betrunken seine Sekretärin vergewaltigt. Der Fall wird publik, Seine Frau lässt sich scheiden, Paul P. muss sich aus allen Ämtern und Funktionen zurückziehen. Eine steile Karriere endet in einem tragischen Absturz. Kann sich P. zurückkämpfen? Findet er eine neue Liebe? Macht er seinem Leben ein Ende?

Ein Beispiel aus der Literatur. In Franz Kafkas Roman „Die Verwandlung“ löst das Schicksal die Katastrophe aus. Gregor Samsa, ein fleißiger, verantwortungsbewusster junger Mann wird über Nacht in einen riesigen Käfer verwandelt. Er kann nicht mehr arbeiten, seine Familie geht auf Abstand. Was hat die Verwandlung ausgelöst? Gibt es eine Chance auf Heilung? Was ist, wenn Gregor für immer ein Käfer bleibt?

Spannung entsteht, wenn sich der Leser mit dem Helden identifiziert, an seinem Schicksal Anteil nimmt, mit ihm leidet und versucht einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden.

Anteilnahme

Ohne Anteilnahme, ohne Identifikation und ohne Fallhöhe, lässt uns das Schicksal des Helden wahrscheinlich kalt. Ein Problem, das sich leicht lösen lässt, erzeugt keine Spannung. Eine Figur, zu der wir keine Beziehung aufbauen, mit der wir uns nicht identifizieren können, lässt uns kalt. Ohne Emotionen geht es nicht.

Da ist das Paar Emma und Peter. Die beiden sind verlobt und wollen demnächst heiraten. Aber da begegnet Ema ihrem Jugendfreund Otto und erklärt Peter: Es ist aus mit uns.

Das ist abstrakt, emotionsfrei und so spannend wie ein Telefonbuch. Die beiden sind uns gleichgültig, weil wir nichts von ihnen wissen, weil wir keine Möglichkeit hatten, eine emotionale Beziehung aufzubauen oder uns gar mit dem Paar zu identifizieren.

Um Anteilnahme, Gefühle zu erzeugen müssen wir die Geschichte wie eine Achterbahn, also mit Höhen und Tiefen, gestalten. Die Formel lautet: Alltag, Glück, Unglück oder Entspannung-Spannung-Entspannung.

Emotionale Achterbahn

Je größer der Kontrast (oder die Fallhöhe) zwischen den Emotionen, desto stärker die Wirkung. Was wir brauchen, das ist eine „emotionaler Achterbahn“. Oder, um es mit einer Redewendung auszudrücken: Ein Wechsel zwischen „Himmelhochjauchzend“ und „zum Tode betrübt“.

Hier die Geschichte des Paares etwas konkreter: Peter hat Emma zu einem gemeinsamen Urlaub überredet. Jetzt genießen die beiden einen Longdrink am Strand von Korsika. Dann nimmt Peter Emma an den Händen und zieht sie ins himmelblaue Wasser. Sie schwimmen ein paar Meter hinaus und tauchen unter. Peter greift in die winzige Tasche an seiner Badehose und nestelt etwas heraus: einen Ring. Er hält ihn fragend vor ihr Gesicht. Sie lächelt und nickt. Überglücklich nimmt er sie in den Arm, bevor sie atemlos auftauchen.  Sie beschließen den Abend bei Hummer und Champagner. Für Peter ist das der schönste Tag seines Lebens.

Am nächsten Morgen zieht sich Ema nach dem Frühstück auf ihr Zimmer zurück. Als Peter dort eintrifft, ist Ema verschwunden. Er sucht nach ihr und findet sie schließlich an der Bar – in inniger Umarm mit einem Mann; ihrem Ex.

Die Fallhöhe reicht vom „schönsten Tag seines Lebens“ bis zum Schock über Emmas Verhalten. Um die Fallhöhe zu erzeugen, muss zunächst das Glücksgefühl aufgebaut werden. Erst von der Höhe des „Himmelhochjauchzend“ wird der Absturz „bestürzend“. Wäre Emma für Peter nur ein belangloser Urlaubsflirt gewesen, wäre die emotionale Achterbahn am Boden geblieben.

Fallhöhe bedeutet größere Anforderung an den Helden, größerer Widerstand bei der Überwindung der Schwierigkeiten oder auch ein größeres (fast unerreichbares) Ziel anzusteuern.

Welchen Widerstand muss Bauer Bernhard überwinden, um den Hunger seiner Kinder zu stillen? Wie eine neue Kate errichten? Womit eine neue Kuh kaufen? Wird er seinen hartherzigen Lehnsherren anbetteln oder eine hochherrschaftliche Kutsche überfallen oder seine Nachbarn bestehlen? Die Fallhöhe verspricht in jedem Fall eine spannende Geschichte.

Entscheidungs- und Erklärungs-Spannung

Ein Branchenspruch erklärt den Konflikt, die Basis jeder dramatischen Erzählung, so: Zwei Hunde streiten sich um einen Knochen.

Aus der Zuschauer-Perspektive heißt das, wir warten auf den Ausgang des Kampfes: Welcher Hund zieht schließlich mit dem Knochen davon? Oder wer gewinnt, der gute Held oder der böse Wicht? Der Straßenköter oder der distinguierte Dalmatiner? Wir warten auf eine Entscheidung oder anders ausgedrückt, wir verharren in einer „Entscheidungs-Spannung“. Die zweite Variante heißt Erklärungs-Spannung. Wir wollen wissen, was denn bei Hemingways-Jagdgesellschaft „passiert“ ist, auf welche „Erfahrung“ der Autor gerne verzichtet hätte oder, wie Gott sich in der Personalie „unedler“ Ritter entschieden hat.

Spannung durch Wissensvorsprung

Wie war das damals beim Kasperletheater? Richtig, Kasperle unterhält sich mit Gretel. Hinter den beiden kommt ein Krokodil ins Bild. Die Kinder schreien: „Kasperle pass auf!“ Doch Kasperle hat nur Augen und Ohren für Gretel. Die Kinder schreien lauter:„ Das Krokodil…“. Kasperle wendet sich genervt den Kindern zu: Seid ruhig, ihr seht doch, dass ich mit Gretel rede. Das Krokodil reißt sein Maul auf und…

Spannung entsteht, weil der Leser/das Publikum – im Gegensatz zu den Akteuren – die drohende Gefahr sieht. Es bezieht die Gefahr auf sich, weil es sich mit den Darstellern identifiziert hat, mitleidet und helfen will. Mitleid und Furcht, heißt es bei Aristoteles (nach Lessings Interpretation), sind Basiselemente der Tragödie. Mitleiden und sich fürchten kann man aber, ich wiederhole es gerne, nur, wenn man den Helden sympathisch findet und fürchtet, dass er die Gefahr nicht rechtzeitig erkennen wird: „Kasperle, pass auf!“

 Wie Hitchcock die Bombe lieben lernte

„Tension“ heißt im Englischen Spannung. Das ist ein Oberbegriff für Surprise (ein unerwartetes Ereignis) und Suspense (Schwebe, Ungewissheit). Den Unterschied hat Alfred Hitchcock in einem Gespräch mit François Truffaut einfach „bombig“ deutlich gemacht.

Hitchcock („Master of Suspense“) erzählt: 

„Nehmen wir einmal an, drei Männer sitzen in einem Zimmer, in dem eine Zeitbombe tickt! In zehn Minuten wird sie hochgehen. Das Publikum weiß nichts von der Bombe und die Männer wissen nichts von der Bombe. Sie reden über das Wetter oder über das Baseballspiel von vorgestern.
 Nach zehn Minuten alberner Konversation geht die Bombe hoch und das Publikum erschrickt. Das ist alles.“

Dann erklärt Hitchcock, wie er diese Szene arrangiert hätte.

„Die Männer ahnen nichts von der Bombe, aber das Publikum weiß, dass sie in zehn Minuten explodieren wird.
Die Männer reden wieder überflüssiges Zeugs, aber nun sind die banalsten Dinge, die sie sagen, prall vor Spannung. Wenn einer von ihnen sagt: Lasst uns jetzt gehen, betet das Publikum, dass sie wirklich gehen. Aber ein anderer sagt: Moment noch mal, lasst mich meinen Kaffee austrinken. Das Publikum stöhnt auf und fleht zu allen Göttern, dass die Männer verschwinden.
Das ist Suspense! Spannung.“ [8]

Spannungskonzepte

Auch die amerikanische Erfolgsautorin, Patricia Highsmith, (1921 -1995) hat sich in  ihrem Werkstattbericht  “Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt” ausführlich mit den beiden Spannungskonzepten beschäftigt:

“Tension” bezeichnet eine akute Bedrohungssituation, die zumeist nur kurz anhält (und sich nur bedingt zeitlich strecken lässt). Der Kontext der Erzählung ist für diese Form der Spannung i. d. R. unerheblich. Wird beispielsweise der Filmheld unmittelbar von einem Mörder angegriffen, so ist dieser Vorgang in praktisch jeder Situation spannend.

“Suspense” hingegen beschreibt einen weiter gefassten Spannungsbogen und ist ohne die semantischen Zusammenhänge kaum vermittelbar. Im obigen Beispiel könnte der Mörder nach einem gescheiterten Anschlag entkommen. Dadurch wäre die Gefahr eines erneuten Angriffs gegeben, und die Spannung bleibt erhalten, ohne dass die weitere Handlung selbst bedrohliche Elemente enthalten muss.

Da jede vorgestellte Zukunft auch nicht eintreffen kann, ist ihre Erwartung immer auch mit der Vorstellung von Nicht-Erfüllung oder – positiver – dem Eintritt von etwas anderem verbunden, dessen Wahrwerden die Verwirklichung des ursprünglich Erwarteten verhindern würde. Im Zustand von Suspense oder Spannung springt nun die Phantasie des Zuschauers zwischen solch entgegengesetzten Zukunftsvorstellungen, einer befürchteten und einer erhofften (“Er schafft’s!” – “Er schafft’s nicht!” – “Er schafft’s doch!” usw.), hin und her.“ [9]

Cliffhanger – Hängen lassen

Der „Cliffhanger“ (an einer Klippe hängen) steht für die Unterbrechung einer Handlung.  Gerade dann, wenn es am spannendsten ist, bricht die Geschichte ab. Fortsetzung folgt – nach der Werbung, in der nächsten Folge, in der nächsten Ausgabe.

Angeblich hat Thomas Hardy 1873 den Begriff  für die Erzählung  „A Pair of Blue Eyes” eingeführt. Der Roman erschien in einer Zeitschrift und die fragliche Szene spielt an den Steilhängen am Bristol Channel. Henry kann sich nur noch an einem Grasbüschel festhalten, um nicht in den sicheren Tod zu stürzen. Ob er sich halten kann oder nicht – das erfährt der geneigte Leser (natürlich) erst in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift.

„La Presse“ und „Le Siècle“ (beide Paris, beide 1836 gegründet) sind vermutlich die Tageszeitungen, die als erste den Cliffhanger als Mittel zur Auflagensteigerung und Abonnenten-Treue entdeckt haben. Vorzugsweise gegen Ende des Jahres, wenn die Abonnements ausliefen, kündigten die Zeitungen einen neuen, großen Roman an, der „tageweise“ erzählt und stets an der „alles entscheidenden“ Stelle unterbrochen wurde. Erst am nächsten Tag erfuhr man dann, wie die Story weitergeht. Allerdings nur bis zum nächsten „show down“. Wenn die Duellanten sich dann (bildlich gesehen) gegenüberstehen, die Hand nervös am Revolvergurt, dann – ja dann vertröstet uns das Blatt auf die nächste Ausgabe. 

Der Film, das Buch, die große Reportage sind meist in sich geschlossene Formate und können eine Handlung nicht bis zum nächsten Buch unterbrechen. Das würde den Leser zu Recht verärgern. Aber, man kann (darf, muss) die Handlung ja auch nicht zwingend sofort zu Ende erzählen. Wie wär’s beispielsweise mit einer netten Parallel-Handlung? Wir unterbrechen kurz die erste spannende Episode und führen sie erst später fort. Inzwischen erzählen wir stattdessen eine ebenso spannende andere Episode.

Tom hängt an einer Klippe der Steilwand. Eine Hand krallt sich in den Felsen, die andere hängt leblos herab. Tom hat nicht mehr die Kraft sich nach oben zu ziehen. Ein Flugzeug kreist über der Küste.

Noch ein Satz und wir können die Spannung lösen. Z.B. Der Pilot sieht Tom, greift zum Funkgerät und informiert den Tower.

Den Teufel werden wir tun. Stattdessen wechseln wir den Schauplatz.
Zu Hause bei Tom. Seine Frau Ann öffnet gerade die Tür.John, strahlend, männlich, umwerfend, nimmt sie leidenschaftlich in die Arme…

Leser auf die Streckbank

Nette Menschen ketten Menschen nicht auf eine Streckbank. Aber Autoren sollen nicht nett sein, sondern spannend erzählen und deshalb strecken sie ihre Geschichte, bis es nicht mehr auszuhalten ist. Spannung muss aufgebaut, die Lösung so lange wie möglich vorenthalten werden. Sol Stein („Über das Schreiben“): „Unser Instinkt als soziale Wesen drängt uns, Antworten zu geben, Spannung abzubauen. Aufgabe des Autors ist es aber, Spannung zu erzeugen und die Auflösung so lange wie möglich hinauszuzögern.“[10]

Eine Dame aus dem Morgenland soll übrigens auf diese Weise ihr Leben gerettet haben. Näheres bei Scheherazade in „Tausendundeine Nacht“

Scheherazade beherrscht die Kunst der Erwartungs-Spannung meisterhaft, indem sie nach jeder Geschichte die Spannung auf die nächste anstachelt. Ganz ähnlich funktioniert eine Erzählung, bei der wir das Interesse des Lesers mit zwei, drei Spannungsbögen wach zu halten versuchen.

Die erste Episode unterbrechen wir (siehe Cliffhanger) selbstverständlich an der bis dahin spannendsten Stelle. Dann entschädigen wir den Leser für die vorerst entgangene Auflösung mit einer anderen Episode an einem anderen Schauplatz. Sie haben es erraten – auch hier bricht die Handlung ab, wenn es um „Sein oder Nichtsein“ geht. Jetzt kehren wir zur ersten Episode zurück (oder fügen eine dritte Geschichte) ein. Wichtig ist nur, dass wir die Spannungslinien aktiv halten bis zum Ende der Story. 

Spanen nicht über-spannen

Die Kunst bei der Verzögerungs-Technik besteht darin, den Bogen nicht zu über-spannen, sonst wird aus Spannung – Langeweile; wofür Scheherazade vermutlich mit ihrem jungen Leben bezahlt hätte.

Vorsicht vor Überspannung auch beim Erzähltempo. Hier ist eher „Wechsel“-Strom gefragt. Hochspannenden Passagen müssen ruhigere Abschnitte folgen, damit sich der Leser kurz zurücklehnen kann, bevor wir ihn mit der nächsten dramatischen Szene aufrütteln.

Spannung-Entspannung-Spannung ist der Rhythmus, zwischen dem die Geschichte pendeln muss. Wenn diese Balance nicht gewahrt bleibt, verflachen die Höhepunkte und bilden eine durchgängige Linie, die keine Überraschungen, keine Steigerungen mehr bieten.
  Handlung auf Augenhöhe

Die folgende Szene stammt von Wolf-Michael Eimler, freier Autor und Coach für Fortbildung bei Fernsehanstalten. Der erste Entwurf der Szene:
                Das Fließband in einer Großbäckerei bleibt stehen. Ein Backblech hat sich verklemmt.
Das ist ungefähr so spannend wie die Tatsache, dass in China ein Sack Reis umgekippt ist. Da wir keine Beziehung zu dem Bäcker und seinen Problemen haben, ist es uns letztlich auch egal, was passiert. Und dann verzichtet der Entwurf auch noch darauf, uns zu zeigen, was am Backblech passiert. Stattdessen werden wir mit einer abstrakten Auskunft (narrative Zusammenfassung[11]) abgespeist.

Eimler erzählt die Geschichte deshalb so:

Das Fließband in der Großbäckerei X bleibt stehen. Bäcker Y sucht fieberhaft nach dem Fehler. Er hat keine Zeit zu verlieren. In spätestens fünf Minuten muss das Band wieder laufen –   sonst landen 20 000 Brötchen auf dem Müll[12]

Der zweite Text versetzt uns in die Situation des Arbeiters, wir sehen die Konsequenzen, falls er es nicht schafft („Fallhöhe“) und hoffen (Mitgefühl), dass noch einmal alles gut geht.

Schlag nach bei Forsyth

Wie schreibt man einen Thriller, der zu einem Welterfolg wird, obwohl jeder schon vorher weiß, wie die Geschichte zu Ende gehen wird?  Sol Stein empfiehlt: Schlag nach bei Forsyth. Beispielsweise der „Schakal“ des englischen Autors, Journalisten und Kampf-Fliegers ist ein Lehrbuch für Spannungsaufbau, Szenenwechsel und Verzögerungs-Taktiken. Die Übergänge wirken dabei so glatt und folgerichtig, dass man sehr bewusst auf die „Dehnungen“ achten muss, um sie nicht zu überlesen.

 Frederick Forsyth wurde zu seinem 1971 erstmals veröffentlichten Roman von einem Attentat auf Charles de Gaulle angeregt. Der Hintergrund der Story:  Mit dem 5. Juli 1962 hatte de Gaulles Frankreich seine algerische Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen.  Für die Anhänger der OAS (Organisation Armée Secrète) war das glatter Landesverrat, der nur durch den Tod des Präsidenten gesühnt werden konnte. 

Ein Bomben-Attentat auf General de Gaulle am 8. September 1961 schlug fehl. Knapp ein Jahr später (am 22. August 1962) versuchte es dieselbe Gruppe unter Führung von Lieutenant Colonel, Jean-Marie Bastien-Thiry, erneut.  Auf einer Kreuzung in Petit-Clamart bei Paris feuerten mehrere Schützen auf den Wagen des Präsidenten-Paares. Die beiden überlebten auch diesen Anschlag. Der General starb acht Jahre später, am 9. November 1970, in Colombey-les-deux-Églises eines natürlichen Todes.

Forsyth verknüpft in seinen Romanen gerne reale und fiktive Ereignisse. Real ist, dass der Kopf des Attentates von Petit-Clamart, Bastien-Thiry, am 4. März 1963 zum Tode verurteilt und am 11. März 1963 von einem Erschießungskommando hingerichtet wurde. Mit diesem Datum beginnt Forsyth (F.) dann auch seinen Roman[13].

 „Es ist kalt um 6 Uhr 40 in der Frühe eines Pariser Märztages, und es scheint noch
 kälter zu sein, wenn zu dieser Zeit ein Mann von einem Exekutionskommando füsiliert werden soll.“

Der Einstieg in den Roman, ein eher belangloser „Wetterbericht“,  zieht  uns trotzdem mit einem Nebensatz aus der Beschaulichkeit. Erinnern Sie sich an das „Prinzip Köder“? Das Lockmittel in die Story ist hier der Hinweis auf eine Hinrichtung.

Zweiter Absatz:  
 „Am 11. März 1963 stand zu jener Stunde ein Oberstleutnant der französischen
 Luftwaffe im Gefängnishof des Forts d’Ivry an einem in den Kies gebundenen Pfahl,
  hinter welchem man ihm die Hände zusammenband, und starrte mit langsam
 schwindendem Zweifel auf einen Zug Infanteristen, der ihm gegenüber in zwanzig
 Meter Entfernung Aufstellung genommen hatte. …Das Gemurmel des Priesters
 bildete den monotonen Kontrapunkt zum Klicken der zwanzig Gewehrschlösser, als
 die Soldaten ihre Karabiner durchluden und spannten.“

Bastien-Thiry hofft bis zur letzten Sekunde. Erschießt ihn das Kommando wirklich oder verweigern seine Kameraden den Gehorsam?  Forsyth hält die Spannung aufrecht und schickt uns auf die Streckbank mit einem Schwenk auf die Straßengeräusche:

 „Jenseits der Mauern sicherte sich ein stadteinwärts fahrender Berliet-Laster mit
 schmetterndem Hupsignal das Vorfahrtsrecht, als ein kleineres Fahrzeug seinen Weg kreuzen wollte.“

Schauen Sie, nein, hören Sie sich diese Übergänge an. Vom Geräusch der durchgeladenen und gespannten Karabiner, schwenkt Forsyth auf den Verkehrslärm mit dem hupenden Lkw, der das „Legt-An-Kommando“ übertönt und auch den Knall des Gnadenschusses „verschluckt.

Wir „sehen“ schließlich wie der von Schüssen durchsiebte Leichnam „in den Fesseln, die ihn an den Pfahl banden“ zusammensinkt.  Forsyth macht einen „harten Schnitt“ und fährt fort:

          „Die Sonne war endlich hinter den Mauern des Palastes gesunken.“

Forsyth nutzt also erneut eine Wetterbeschreibung, um einen ganz normalen, heißen Augusttag mit dem historischen Attentat auf de Gaulle in Kontrast zu setzen. Das Ungewöhnliche wirkt bekanntlich dramatischer, wenn es in ein gewöhnliches Umfeld gesetzt wird.
Detailreich beschreibt Forsyth jetzt zunächst, wie die Fahrer der Kabinettsmitglieder im Innenhof warten, bevor sie endlich mit den Ministern und dem Präsidenten ins Wochenende starten können. Der Fahrer des Präsidentenwagens biegt „nach links in die Avenue Marigny ein“.  Es folgt ein Vier-Zeilen-Absatz“, der sich nahtlos in die Schilderung einfügt.
 „Unter den Kastanienbäumen am Straßenrand saß ein junger Mann in weißem
 Sturzhelm auf einem Motorroller und wartete bis der Konvoi vorgefahren war. Dann
 stieß er sich vom Bordstein ab und folgte ihm. Für ein Wochenende im August war der Verkehr normal…“

Forsyth braucht keinen schrillen Wecker, um uns wachzurütteln und auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Er überlässt es dem Leser, die Beobachtung mit dem jungen Mann einzuordnen und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Denn natürlich weiß Forsyth´, wer mitdenkt verstrickt sich tiefer in der Geschichte als ein Leser, dem alles vorgekaut wird.

Aus Forsyths Trickkiste

Verzögerungen des Höhepunktes, überraschende Unterbrechung alltäglicher Begebenheiten, scheinbar harmlose Beobachtungen, die sich als dramatischer Wendepunkt der Story erweisen, harte Schnitte zwischen zwei Szenen, um die Spannung zu steigern – das alles gehört zum Repertoire des Autors.

Hinzu kommen detailverliebte Schilderungen wie beispielsweise die telefonbuchartige Auflistung der einzelnen Unterabteilungen des Geheimdienstes (S. 18). Diese akribisch recherchierten Fakten tragen nicht unbedingt zur „Fesselung“ des Lesers bei, sie verstärken bei ihm aber möglicherweise die Illusion, es handele sich bei dem Roman doch um eine Dokumentation realer Ereignisse.

Die Meisterschaft des Thriller-Autors zeigt sich aber vor allem bei der Konstruktion der Parallelhandlung. Da ist der eine Handlungsstrang mit  der minuziösen Vorbereitung des Attentats durch den eiskalten, professionellen und skrupellosen Killer und der zweite mit Kommissar Claude Lebel, der dem Phantom  „Schakal“  Schritt für Schritt näher kommt. Der Vorsprung des Attentates schrumpft bis zum Finale auf wenige Sekunden zusammen.

Ich wiederhole mich gerne: Folgen Sie der Empfehlung von Sol Stein und lesen Sie mit den Augen eines Autors, wie Forsyth Handlung stränge konstruiert und verschränkt.

Zumindest mich hat das so gefesselt, dass ich zwischenzeitlich vergas, dass der Schakal dem Präsidenten ja zu keiner Minute gefährlich werden konnte. Als der Roman erschien war de Gaulle schon ein Jahr tot; wie gesagt – er starb eines natürlichen Todes.

Zwei Wege, ein Ziel

Forsyth nutzt für seinen Roman ein klassisches Gegensatzpaar „Jäger und Gejagter“. Beide haben ein Ziel: De Gaulle. Der eine möchte den Präsidenten töten und entkommen, der zweite den Anschlag verhindern und den potentiellen Killer dingfest machen. In zwei Handlungssträngen nähern sich die beiden parallel dem Ziel. Die Spannung entsteht, weil der Leser beide Seiten kennt und weiß, wann und wo sich die Wege kreuzen werden.
Wie war das noch bei Hitchcocks Bombe? Selbst scheinbar belanglose Gespräche/Handlungen bekommen einen völlig anderen Stellenwert, wenn der Leser – im Gegensatz zum Akteur – um die Gefahren weiß. Je nach Sympathie leiden oder entspannen wir mit den Helden.

Der entscheidende Vorteil solcher Parallelhandlungen ist, dass man die Handlungsstränge jederzeit logisch und nachvollziehbar an den entscheidenden – sprich spannendsten – Punkten trennen und damit die Auflösung hinauszögern kann.

Alles drängt zu Paaren

Gegensatzpaare sind die „natürlichste“ Besetzung für solche Erzähl-Konstruktionen und vielseitig verwendbar. Sie können eine simple Beziehungsgeschichte als Parallelhandlung anlegen und werden dabei feststellen, wie spannend selbst ein „Hochzeitsfilm“ sein kann, wenn Sie den Weg von Braut und Bräutigam bis zum Altar getrennt erzählen.

Was alles musste passieren, damit die beiden ein Paar wurden? Welche historischen, politischen, religiösen oder sozialen Verwerfungen waren Voraussetzung für das Zusammentreffen der beiden? Wo hatten sich ihre Wege vielleicht schon einmal gekreuzt, wo und warum drifteten sie wieder auseinander? Was führte schließlich zu diesem Moment mit Orgelmusik, Smoking und Brautkleid?

Andere Paarbildungen, die für Parallel-Handlungen beliebt und geeignet sind:
Täter und Opfer, Killer und Kommissar, der Gute und der Böse, der Arme und der Reiche, Freund und Feind, Eroberer und Local-Hero, Patient und Arzt, der Wettlauf gegen die Zeit und die Gefahr, der Retter und der Verletzte, Mutter und Kind, Diktator und Rebell, oder ganz einfach Mann und Frau.
 Die Welt besteht aus Widersprüchen. Nutzen wir sie.

Am Anfang ist der Schluss

Viele Ratgeber raten, fangen Sie beim Schreiben mit dem Schluss an. Dann wissen Sie, wie die Geschichte ausgeht, können das Ende andeuten, die Handlungsstränge verwickeln, falsche Fährten anlegen und überraschende Lösungen aufzeigen.

EineGeschichte hört nicht einfach auf: Sie ist abgeschlossen, sie hat ihre Botschaft vermittelt, die aufgeworfenen Fragen beantwortet und uns – wie Aristoteles forderte – von Mitleid und Furcht gereinigt (Katharsis)

Zwei Dinge dürfen beim Schluss aber auf keinen Fall passieren:

1. Er darf nicht vorhersehbar sein. Wenn ich auf Seite 1 schon ahne, wie die Story ausgeht, kann ich doch gleich die Zeit für etwas anderes nutzen. Deshalb sorgen Sie an den passenden Stellen für einen „Twist in the tale“, einen überraschenden, aber plausiblen Dreh, der die Story in eine Richtung fortführt mit der der Leser niemals gerechnet hätte. Werbetexte leisten sich manchmal solche Dreher. Dieser hier zum Beispiel:

Eine Sopranistin verursacht mit ihrem Gesang buchstäblich eine akustische Umweltverschmutzung. Gnädigerweise unterbricht sie kurz ihren Auftritt, schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein (Großaufnahme: Mineralwasser-Marke), setzt das Glas ab, erhebt ihre Stimme und singt weiter; genauso ohrenbetäubend wie vorher.
Fazit: Dieses Mineralwasser hilft wirklich nur gegen Durst.

2. Ein Deus-ex-Machina-Ende (lat. Gottheit aus der (Theater-)Maschine):  Da schwebt urplötzlich und völlig unmotiviert ein „Geist“ herein, von dem keiner etwas wusste, und führt alles auf wundersame Weise zum „Happy End“. So etwas macht vielleicht einen Autor „happy“, der einfach nicht mehr wusste, wie er die Geschichte zu Ende bringen sollte, aber beim Zuschauer hält sich die Begeisterung für diese Schluss-Variante meist in Grenzen. Berthold Brecht hat zwar in seiner Dreigroschenoper auch auf die Deus-ex-Machina-Lösung zurückgegriffen, aber er setzte sie ironisch ein, um Klischees von Verbrechen und Verbrechern zu hinterfragen.

 Der Mörder Macheath alias Mackie Messer wird zum Galgen geführt. Alles aus und vorbei? Nicht bei Brecht, der dem staunenden Publikum verkünden lässt:

„Wie einmal Gnade vor Recht ergeht/und darum wird, weil wir’s gut mit euch meinen/Jetzt der reitende Bote des Königs erscheinen.“[14]

Und da kommt er auch schon daher auf einem hölzernen Ross – der „reitende Bote“ und überbringt den Gnadenerlass des Königs. Auch Majestäten sind manchmal Theatergötter.

Zur Entspannung – ein bisschen Spannung beim Klops-Mahl

Ick sitze da und esse Klopps,/uff eenmal klopp’s/Ick staune, stutze, wundre mia,/uff eenmal jeht se uff, de Tüa./Nanu, denk ick, ick denk nanu?/Jetzt is se uff, erst wa se zu./Ick jehe raus un kieke,/un wer steht draußen? Icke.[15]

Mit welchen Mitteln wird Spannung erzeugt?

A)  Inhaltlich, werden Informationen vorenthalten. Wir stutzen, ehr wissen; durch Nichtwissen entsteht der Wunsch, alles oder doch zumindest mehr wissen zu wollen

B) Teilhabe, der Leser ist an den Reaktionen beteiligt: Ick staune, stutze, wundre mia…

C)  Fragen, und wer steht draußen?

D) Rhetorik, Signalwörter für Neuigkeiten – auf einmal…

E)  Anakoluth/Satzbruch…erst war se uff.. 

F) Retardierung/Verzögerung vor der Auflösung Ick jehe raus un kieke,/
     un wer steht draußen? 
                    (frei nach Friedel Scharth „Zur Frage der Spannungs-Erzeugung“)[16]

Irgendwann mehr

Das folgende Beispiel aus dem Parteiorgan „Kieler Stärke“, wollte ich Ihnen einfach nicht vorenthalten. Ein Musterbeispiel für Spannungsaufbau. Die Meldung emotionalisiert mit einem Appell, stellt eine Frage, die zumindest am Rungholtplatz jede n interessiert. Aber lesen und genießen Sie selbst.

   „Kieler Stärke“ vom 14.04.2012
„Rettet den Rungholtplatz – wie geht es weiter?„Diese Frage hat Rolf Fischer zusammen mit dem SPD-Ortsverein Suchsdorf mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutiert und es wurden am Ende der interessanten Diskussion auch Antworten gefunden.“

Textende? Textende! Möglicherweise hat man in Kiel aber auch nur den Hinweis vergessen. „mehr… irgendwann“.

 Ich wollte mir die Meldung 2025 für Schulungszwecke ausdrucken, aber leider ist sie nicht mehr auffindbar. Wirklich schade.

Spickzettel  II
         
        Zur Spannung

„Erwartungsvolle Spannung ist der Leim, der Leser und Werk verbindet.“
                                          (Sol Stein, „Über das Schreiben“)
Eine Story gewinnt an Spannung, wenn das Ziel nicht glatt und einfach erreicht wird, sondern wenn Hindernisse, Komplikationen oder Konflikte überwunden werden müssen. Also  à Barrieren einbauen, Auflösung hinauszögern.

  • Verzögern Sie die Auflösung durch Parallel-Handlungen/Nebenschauplätze und Rückblenden.    Aber à Auch Parallelgeschichten brauchen Spannung

  • Eine Story verliert Spannung, wenn das Ende der Geschichte vorhersehbar ist.

          Deshalb à überraschende Wendungen einführen (keine deus ex machina)

  • Eine Story gewinnt an Spannung, wenn sich die Auflösung kurz vor dem Höhepunkt nochmals verzögert (Retardierung).

          Achtung à ,jeder neue Konflikt muss größer sein als der Vorausgehende.


Und – man kann es nicht oft genug wiederholen – nur wenn der Zuschauer eine Beziehung zum „Helden“ aufbauen kann, ist er willens und fähig Interesse/Emotionen/Engagement für die Ziele des Protagonisten zu entwickeln und voller Spannung mitzufiebern, ob das Ziel erreicht wird. 

Also à Kreieren Sie „menschliche“ Helden mit starken Motiven

Merksatz:
 Der Leser hat keinen Trichter in den Sie einfach alle Informationen kippen können; der Leser will selbst mitdenken, ein Stück weit selbst die Rätsel lösen. Gönnen wir ihm dieses Vergnügen und Kauen ihm nicht alles bis ins letzte Detail vor

Anregungen für Übung II
  Jetzt machen Sie’s spannend

Erzählen Sie bitte eine dieser Geschichten weiter und nutzen Sie geeignete Spannungselemente.

  1. Torsten S. (24) ist seit drei Monaten „trocken“, arbeitslos, vorbestraft und hoch verschuldet. Er lebt alleine in einer engen, lauten, ungemütlichen Ein-Zimmer-Wohnung. Zu Frau und Kindern darf er nur zurück, wenn er mindestens ein Jahr  lang durchgehalten hat. Dann will ihm auch sein ehemaliger Chef eine zweite Chance geben. Torsten glaubt an sich: „Ich muss es einfach schaffen, sonst ist alles aus.“ Es ist 22 Uhr. Es klingelt an der Haustür…
  1. Frühschicht. Konrad M. (54) ist seit acht Jahren Busfahrer bei der BVG, aber an diese Schicht kann er sich einfach nicht gewöhnen. Wer ist schon nachts um 3 Uhr fit? Vor allem, wenn man nicht geschlafen hat, wenn man sich nur von einer Seite auf die andere gewälzt hat, wenn einem tausend Gedanken gequält haben. Konrad M. jedenfalls nicht. Aber er muss. Noch einen heißen Kaffee, dann setzt sich ans Steuer seines MAN-Doppeldeckers…
  1. Sie nennt sich Funny und ist ein einziges sinnliches Versprechen. Äußerlich. Innerlich brodelt ein Vulkan aus Wut, Zorn und Mordlust in ihr. Man hat sie verletzt, verlassen. Sie will Rache. Dieser Mann soll an jedem einzelnen Knochen spüren, was er ihr angetan hat. Der etwas linkische Robert und Kevin, ein stadtbekannter Schlägertyp, haben versprochen zu helfen. Jeder auf seine Art. Sie wird sich bedanken. Auf ihre Art. Funny begutachtet zum fünften Mal ihre Fingernägel. Verdammt, wo bleiben die beiden? Seit einer Stunde sind sie überfällig.

Quellenhinweise


[1] David Logde: “Die Kunst des Erzählens”, Diana Verlag, 2002,

[2] Sol Stein „Über das Schreiben“, S. 160, Verlag Zweitausendeins, 2006

[3] Heinrich Heine, „Buch der Lieder“, Lied des Gefangenen, 1822, zitiert nach www.lyrik123.de

[4] Ernest Hemingway, “Die Stories“, Rowohlt, 2009

[5] Ebenda, S. 227 ff.

[6] Arthur Schopenhauer, „Die Welt als Wille und Vorstellung“, 1818, zweibändige Hauptwerk des deutschen Philosophen.

[7] Beispiele Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson.

Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Friedrich Schiller: Kabale und Liebe.

[8]  Francois Truffaut, „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“,, Heyne Verlag, 2004

[9] Patricia Highsmith, „Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt“, Diogenes-Verlag, 1990

[10] Sol Stein „Über das Schreiben“, Verlag Zweitausendeins, 2006

[11] narrative Zusammenfassungen geben dem Leser kein Futter für seine Phantasie, sondern nur Informationen über die Handlung. Definition nach www.leixoletti.de/theorie/glossar.htm

[12] Wolf-Michael Eimler, „Textregeln einer Königsform“, aus „sage & schreibe Werkstatt/Journalist 2001

[13] Frederick Forsyth, „Der Schakal“, (Übersetzung Tom Knoth) Verlag R. Piper, 1972

[14] Werner Hecht (Herausgeber) „Brechts Dreigroschenoper“, suhrkamp-Taschenbuch, 1985

[15]  Carl Einstein (Herausgeber) „Europa Almanach 1925“ ‚“Icke“, Verlag Gustav Kiepenheuer,1925

[16] 2012 Zitiert nach http://www.friedel-schardt.de/erzählen.htm