Lektion 5: Figuren, Typen, Charaktere
Ziele der 5. Schreibstunde:
Einprägsame Persönlichkeiten „erschaffen“, die eine Geschichte tragen können, weil man sich mit ihnen identifizieren, sie lieben oder hassen kann. Mit welchen inneren, äußeren und sozialen Merkmalen müssen wir die Figuren ausstatten? Welche Typen, Rollen, Charaktere in Literatur und Psychologie können uns dabei helfen?
Gliederung der Schreibstunde
- Anforderungen an die Figur
Übersicht
- Autobiografische Züge der Figur
- Figuren als Projektionsfläche
- – gute Seiten, böse Seiten
- Die Schwächen der Starken
- Das andere Leben
- Back-Story
– Der Held und seine Aufgaben#
2. „Setzkasten“ der Figurengestaltung
Aus der Werkstatt
- Äußere Merkmale
- – Innere Merkmale
- Soziale Merkmale
- Psychologische Dimension
- Konfliktpotential
Am ersten Tag kreieren wir den „Menschen“
„Geschichten handeln von Menschen“, sagt Otto Kruse („Kunst und Technik des Erzählens“)[1] und Sol Stein („Über das Schreiben“[2]) ergänzt: „Das Interesse des Lesers und sein Vergnügen an einem Text misst sich u.a. daran, wie lebendig die beschriebenen Personen sind, und ob es gelingt, Gefühle hervorzurufen.“
Die Erzählfigur ist der wichtigste Teil jeder Story und deshalb muss sie unverwechselbar, glaubhaft/plausibel und anschaulich gestaltet werden.
Das ist ein hartes Stück Arbeit. Kneten wir den Ton und versuchen folgendes zu modellieren:
- Jede Figur hat eine eigene Geschichte,
- sie hat physische und psychische Eigenschaften,
- sie hat besondere Kenntnisse und Fähigkeiten,
- sie lebt in einer bestimmten Gesellschaft in einem bestimmten Zeitfenster, in einer bestimmten Region. Sie hat eine individuelle Art mit dieser Gesellschaft zu kommunizieren und zu agieren,
- sie hat oberflächliche Merkmale wie Gesichtsform, Haar- und Augenfarbe, eine eigene Sprechweise und eine eigene Motorik,
- sie hat Gewohnheiten und Marotten, sie hat einen eigenen Stil sich zu kleiden und
- sie hat (hoffentlich) etwas, was sie von anderen unterscheidet.
Das Leben als Vorlage
Natürlich hat jede Figur, die Sie erfinden, auch autobiografische Züge, aber billigen Sie Ihrer Person nicht nur ein Eigenleben zu, sondern entkoppeln Sie die Figur bewusst von Ihrer eigenen Biografie, lassen Sie ihr Freiheiten, die Sie sich selbst (vielleicht) nie gestattet hätten. Gestatten Sie ihre Dummheiten, Irrwege, Niederlagen. Und keine Angst vor Rückschlüssen des Lesers auf ihre Person: Ein Text ist (meistens) keine Beichte.
Die Figur kann sich auch aus mehreren „Vor-Bildern“ zusammensetzen; Hauptsache sie bleibt plausibel. Holen Sie sich Anregungen aus der realen Welt und verfremden Sie den Charakter nach Herzenslust. „Schriftsteller sind nicht der Wirklichkeit, sondern allein ihrer Geschichte verpflichtet und dürfen sich nach Belieben aus den Vorlagen bedienen, die das Leben bietet.“[3]
Projektionsflächen für Emotionen
Die Figuren sind Projektionsflächen für Sympathien und Antipathien des Lesers. Er muss bei der Geschichte weinen, hassen, lieben, lachen können. Er muss „mit-leben“, sich mit einer der Figuren identifizieren können. Und das kann der Leser umso besser, je lebensnaher die Charaktere und deren Konflikte gestaltet sind.
Es geht nicht um „glatte“, stromlinienförmige Figuren, sondern um Menschen mit Kanten und Macken, denen es ebenso schwerfällt wie dem Leser, Angst, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit zu überwinden. Und deshalb fiebern sie mit dem Helden, wenn der die Herausforderung annimmt.
Der Leser, der Zuschauer soll die Bedrohung des Protagonisten so spüren, als wäre sie gegen ihn selbst gerichtet, schreibt Aristoteles in der „Poetik[4]. Die Anteilnahme wächst, je ähnlicher der Protagonist dem Zuschauer ist, je stärker er sich identifizieren und Empathie empfinden kann. Mitleiden durch Mitgefühl.
Der Böse braucht auch gute Seiten
Das wichtigste Element der Story ist der Held. Oder, wie Sol Stein schreibt: „Am Anfang ist die Figur“. Natürlich sollten Sie ihren Protagonisten ins Herz geschlossen haben, aber genau so starke Gefühle müssen Sie für den Antagonisten entwickeln.
Nur ein starker Gegenspieler zwingt den Helden zu Höchstleistungen, zwingt ihn seine Schwächen zu überwinden. Nur ein starker Kontrapunkt sorgt für eine spannende Lektüre. Ein Gegenspieler, der „nur“ böse ist, hat entweder eine Macke oder er ist „ferngesteuert“. Der „Bösewicht“ wird menschlicher, glaubwürdiger, plausibler, wenn er auch sympathische Seiten hat und wir erklären können, warum er „böse „geworden ist.
Der Starke braucht Schwächen
Lebensechte Typen haben Stärken und – Schwächen. So wie James Bond, der bei aller Cleverness auf jede attraktive Frau hereinfällt, Oder, wie Achilles, der fast Unsterbliche, der eine (verwundbare) Ferse hat oder wie der Wikinger-Knirps Wickie, der seinen zarten Körperbau und seine Ängstlichkeit mit Intelligenz wettmachen muss. Moralisch ohne Tadel, sei der Held, aber menschlich also – nicht vollkommen.
James Bond: Schüchterne Helden
Daniel Craig als James Bond trat regelmäßig gegen das Böse an, um die Welt zu retten. Wenn von Helden die Rede ist, sollte Craig also wissen, von was er spricht; zumindest, wenn es um fiktive Helden geht:
„Helden sind interessant wegen ihrer Makel und Schwächen – und wie sie diese überwinden. Man schaut ihnen zu, wie sie über sich selbst hinauswachsen. Das möchte jeder können…Echte Helden im echten Leben sind meist eher schüchtern und laufen nicht stolzgeschwellt herum. Ich kenne Feuerwehrleute, die bei 9/11 dabei waren, die in die brennenden Türme reingingen, um Menschenleben zu retten. Sie sprechen nur unwillig darüber.“ (Daniel Craig im ZEIT-ONLINE-Interview, 13.01.2012)
Die Nonne und der Strich
Nebenfiguren sind keine Nebensächlichkeiten. Ungewöhnliche Charaktere treiben die Handlung voran, geben ihr Farbe und eröffnen weitere Perspektiven. Häufig hilft es bei der Figuren-Entwicklung Klischees zu nutzen, um sie dann gegen die Leser-Erwartung „umzudrehen“. Da ist z.B. die gläubige Nonne, die in ihrer Freizeit auf den Strich geht, der fürsorgliche Vater, der sein Geld im Kasino verspielt, der korrupte Politiker, der heimlich ein Waisenhaus unterstützt oder die moralische Instanz, die sich jeden Vorteil verschafft, den sie erreichen kann. Im „Warum?“ für dieses Verhalten steckt der Stoff für einen weiteren Handlungsstrang
Back-Story
Der Hintergrund der Figuren ist wichtig, um die Motive, die Handlungsweise, die Schwächen und Stärken der Charaktere verständlich machen zu können. Was hat die Figur bisher getan, erlebt, was hat sie geprägt, wo ist sie aufgewachsen, vor was hat sie Angst, was möchte sie verschweigen? Je genauer die Back-Story recherchiert wurde, desto authentischer lässt sich die Geschichte erzählen. Das gilt auch, wenn nur ein kleiner Teil der Back-Story in der Erzählung auftaucht.
Ernest Hemingways sagte, eine „gute Geschichte ist wie ein Eisberg – ein Großteil der Wirklichkeit sollte bleiben und vom Leser selbst erschlossen“[5] werden.
Eine Methode, um zu einer guten Back-Story zu kommen, ist das Interview. Löchern Sie ihre Protagonisten und Antagonisten so lange mit Fragen, bis Sie einen Eindruck und einen Einblick in den Charakter bekommen haben.
Was der Held leisten muss
Der Story- und Script-Berater Michael Hauge hat in “Writing Screenplays that sell” [6]auf die Frage nach der Leistung des Helden fünf Antworten gegeben:
1.Der Held muss (mit einer erkennbaren Motivation) die Handlung vorantreiben
2. Das Publikum muss sich mit diesem Helden identifizieren können. Es muss sich fürchten, wenn ihm Gefahr droht, es muss Angst haben, wenn ihm Unheil droht und hoffen, dass er überlebt und die Gefahr überwinden kann.
3. Der Held hat ein klares, spezifisches Motiv, das ihn antreibt, das Ziel zu erreichen
4. Der Held muss sich bei der Verfolgung des Ziels ernstzunehmenden Hindernissen und Herausforderungen stellen.
5. Der Held muss Mut beweisen. Wenn für ihn nichts auf dem Spiel steht, wenn die Herausforderung nicht furchteinflößend ist, funktioniert die Story nicht.
Figuren-Werkstatt
Wir haben festgestellt: Jede Figur braucht eine eigene Geschichte, hat eigene physische und psychische Eigenschaften, eigene Erfahrungen und Prägungen. Manchmal genügt ein Detail, um die Figur unverwechselbar zu machen. Eine Blitznarbe auf der Stirn- das kann nur Harry Potter sein. Und wenn Sie einem Jungen begegnen sollten, dessen Nase bei jeder Lüge beträchtlich wächst, dann können Sie ihn getrost mit Pinocchio ansprechen.
Glücklich der Autor, der solch signifikante Auffälligkeiten findet, aber zunächst ist Detailarbeit angesagt. Und das heißt: Welche inneren und äußeren Merkmale müssen wir erfassen, um eine Figur zu gestalten?
Äußere Merkmale
Die Figurengestaltung setzt in der Regel bei den äußerlichen, leicht zugänglichen Merkmalen an. Bewährt hat sich ein systematisches Vorgehen mit Hilfe eines Fragenkataloges. Welche Angaben Sie anschließend tatsächlich verwenden, ist abhängig von der Story und vor allem davon, was Sie zur Charakterisierung der Figur für wichtig halten.
Erinnern Sie sich noch an Hemingway und sein Eisberg-Beispiel? Die meisten erfassten Merkmale werden in ihrer Story keine Rolle spielen, sind aber jederzeit abrufbar, wenn sie gebraucht werden.
Sie können die Merkmale erfinden und ihrer Figur anheften, Sie können aber auch reale Personen beobachten, beschreiben und dann für ihre Zwecke nutzen. Häufig trägt die zweite Methode dazu bei, ihre Protagonisten noch realistischer zu gestalten. Und – nicht zu unterschätzen – Ihre Beobachtungsfähigkeit zu stärken.
Allgemeine Angaben: Name (Arbeitsname für die Story) Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnort
Körperbau: groß, klein, schlank, korpulent, durchtrainiert, unsportlich, kräftig, schwächlich, behindert, nichtbehindert, dynamisch, behäbig
Kopf: Haarfarbe, Frisur, Brille, Kopfform (rund, eckig, oval), Augenfarbe, Nasenform, Mund, Gesichtsfarbe. Ausdruck: Ernst, angespannt, verbissen, verzweifelt, fröhlich, offen, nachdenklich
Körperhaltung: gelöst, aufrecht, gebückt, angespannt. Bewegung (geschmeidig, verkrampft, schwerfällig), Auftreten (aggressiv, zurückgenommen, selbstbewusst, ängstlich). Gestik, Mimik
Kleidung: modisch, konservativ, elegant, abgetragen, schlampig, sportlich, farbig, eintönig. Schmuck, Abzeichen
Sprache: Dialekt, Eigenarten, Sprachmelodie
Besondere Auffälligkeiten: Narben, Schmisse, Tätowierungen, Piercing
Innere Merkmale
Meinungen, Einstellungen, Werte lassen sich nur im Gespräch, im Interview offenlegen. Das gilt auch für fiktive Figuren. Bei „Interviews“ mit fiktiven Persönlichkeiten sind allerdings stärker ihre Fantasie und ihre Erfahrung gefragt, um die Figur „lebendig“, glaubhaft, und identifizierbar zu kreieren.
Der Fragenkatalog ist auch bei Interviews mit Fantasiegestalten empfehlenswert:
Verhalten: arrogant, aufbrausend, aggressiv, besonnen, bodenständig, dominant, egoistisch, freundlich, friedlich, hysterisch, kühn, leidenschaftlich, schüchtern, unsicher.
Motivation: Streben nach Glück, Anerkennung, Ehre, Bedeutung, Sex, Liebe, Macht, Reichtum, Verwirklichung religiöser, politischer, gesellschaftlicher Überzeugungen, Gier, Überlegenheit, kriminelle Perversion, Spaß, Abenteuerlust, Erfolg
Warum jemand etwas tut oder nicht tut, lässt sich oft nicht auf ein einfaches Motiv zurückführen. Unterschiedliche Motive überschneiden sich, widersprechen einander oder werden auch von unbewussten Impulsen überlagert.
Triebe: Sicherheits-, Aggressions-, Bindungs-, Nahrungs-, Sexualtrieb
Ängste: Paranoia, Verfolgungswahn, allgemeine Angststörungen. Phobien: Angst vor engen Räumen (Klaustrophobie), Höhenangst, Angst vor Menschenmassen, Angst vor Fremden (Xenophobie), vor dem Fliegen, vor Dunkelheit
Emotionen: Wut, Trauer, Liebe, Zuneigung, Freude, Glück, Angst, Trauer, Ekel
Überzeugungen/Werte: Ideologien, Religion, politische, parteipolitische, soziale Einstellungen
Hobbies: Sport, Vereine, Basteln, Kunst (Malen, Schreiben, Musizieren, Werken). Vorlieben: Essen, Unterhaltung, Reisen
Sexualität: Orientierung, Toleranz, Bedeutung, Promiskuität
Soziale Merkmale
Die soziale und kulturelle Umwelt prägt die Figur und beeinflusst ihr Verhalten. Wenn dann eigene Bedürfnisse äußeren, gesellschaftlichen Ansprüchen und Erwartungen widersprechen, führt das zwangsläufig zu individuellen Konflikten.
Die Recherche zur gesellschaftlichen Situation der Charaktere und die Untersuchung ihres Lebensraums ist daher existenziell für die Figurengestaltung.
Herkunft/Sozialisation: Zeit, Region, Milieu (Gesellschaftsschicht), Elternhaus, Bildung (Schule, Studium, Ausbildung), Religions- und andere Gemeinschaften, Organisationen, Beruf, Vereinigungen, Parteien, Vereine
Familie/Partner: Eltern, Geschwister, Ehepartner, Mentoren, Freunde, Kollegen, Vereins- und Parteimitglieder, Mitarbeiter, Vorgesetzte – Bedeutung der Partnerschaft, Erwartungen, Erfahrungen
Psychologische Dimension
Die Eskalation des dramatischen Konflikts einer Geschichte wird häufig nicht nur durch äußere Einflüsse und Ereignisse ausgelöst, sondern ebenso durch psychologische Prozesse. Ihre Ängste, Wünsche und Hoffnungen treiben die Figuren zu Entscheidungen mit dramatischen Folgen.
Bei den Fragen, wie eine komplex gestaltete Figur die Welt wahrnimmt, wie sie auf äußere Ereignisse und Begegnungen reagiert und wie sie zwischenmenschliche Beziehungen aufbaut, helfen psychologische Theorien. Dazu zählen beispielsweise die Theorie des Unbewussten (Sigmund Freud) und die Tiefenpsychologie des Carl Gustav Jung.
Das Unbewusste
Freuds psychoanalytische Theorie[7] geht davon aus, dass unsere Handlungen nicht immer im vollen Bewusstsein ausgelöst werden. Vielmehr seien unbewusste wünsche und Erfahrungen Triebfedern unserer Handlungen
und Entscheidungen. Drei Instanzen bestimmen demnach unser Seelenleben: Das Ich, das Über-Ich und das Es.
Das „Es“ repräsentiert unsere Triebhaftigkeit. Es drängt auf möglichst schnelle Befriedigung. Unter dem Einfluss der Außenwelt entsteht aus dem „Es“ das „Ich“. Das „Ich“ orientiert sich an der Lebenswirklichkeit und versucht die Forderungen des „Es“ mit der Realität in Einklang zu bringen. Aus dem „Ich“ entwickelt sich durch die Identifizierung beispielsweise mit dem Elternhaus das „Über-Ich“. Das ist die moralische Instanz unserer Persönlichkeit. Das „Über-Ich“ kritisiert gegebenenfalls das Verhalten des „Ich“ und löst so in ihm – meist unbewusst – Schuldgefühle aus.
Die Kraft des Unbewussten wurde in vielen ´Geschichten und Filmen aufgegriffen und in teilweise verstörende Bilder umgesetzt.
Jungs Archetypen
Freuds Zeitgenosse Carl Gustav Jung[8] gilt als Begründer der analytischen Psychologie. In Mythen, Religionen, Märchen und den Träumen seiner Patienten entdeckte Jung weltweit gleiche Urbilder (Archetypen). Diese Typen und Bilder, glaubt Jung, bilden das „tiefe, kollektive Unbewusste“, das universelle Gedächtnis, das Muster an Gedanken und Emotionen.
Seine Theorie erkläre auch, warum viele Märchen in den unterschiedlichsten Kulturkreisen ähnlich gestaltet sind, obwohl es keine Beziehung zwischen diesen Gebieten gab.
Jungs Archetypen gelten deshalb als „Ur-Charaktere“, die weltweit im kollektiven Gedächtnis der Menschheit verwurzelt sind und eine Rolle in vielen Geschichten spielen.
Vorbild für Star Wars
Eines der bekanntesten Beispiele dafür dürfte die „Star Wars-Saga (Krieg der Sterne) sein. Der Drehbuchautor und Regisseur George Lucas brachte die erste Episode 1977 auf die Leinwand. Ein Jahr später wurde der US-amerikanische Film mit sechs Oscars ausgezeichnet. Die Saga zählt zu den finanziell erfolgreichsten Streifen der Filmgeschichte.
Die Story spielt in einer fernen, fiktiven Galaxis und handelt von einer Rebellen-Allianz, die unter Führung der Prinzessin Leia gegen das diktatorische Imperium unter Darth Vader kämpft.
Hier aber zunächst eine Auswahl an
Jungs Archetypen:
Der Selbst-Archetyp: Er steht für die Persönlichkeit und das Streben nach Ganzheit. Das Selbst symbolisiert die Vereinigung von bewussten und unbewussten Aspekten des Individuums.
Der Schatten: Er repräsentiert die dunklen, verdrängten oder unbewussten Aspekte der Persönlichkeit.
Die Anima: Sie ist der archetypische weibliche Teil der Psyche eines Mannes. Der „Animus“[9] ist der archetypische männliche Teil der Psyche einer Frau.
Der Held: Dieser Archetypsteht für den Wunsch nach Selbstverwirklichung und das Überwinden von Herausforderungen. Er geht auf eine Reise, um Prüfungen zu bestehen und schließlich in das „Selbst“ zu integrieren.
Der weise Alte (oder der Mentor): Er repräsentiert Weisheit, Rat und Führung. Der weise Alte fungiert oft als Lehrer oder Mentor, der den Helden auf seiner Reise unterstützt.
Die Große Mutter: Sie symbolisiert sowohl das nährende als auch das zerstörerische Prinzip. Sie kann Fürsorge und Schutz bieten, aber auch eine überwältigende, kontrollierende Kraft darstellen.
Der Trickster: Er ist ein Archetyp, der für Humor, Chaos und Subversion steht. Er hinterfragt gesellschaftliche Normen und Werte und bringt oft durch unerwartete Wendungen Veränderungen oder Einsichten.
Star-Wars-Typen
Viele dieser Archetypen finden sich in der Star-Wars-Saga wieder. Hier ein paar Beispiele:
Der Held – Luke Skywalker
Luke Skywalker ist der klassische „Held“ der heroischen Reise, die Jung oft in seiner Archetypen-Theorie beschrieb. Er ist ein junger Mann, der seine gewohnte Welt verlässt, sich Herausforderungen stellt, Prüfungen besteht und schließlich zur Erfüllung seiner Bestimmung, dem Kampf gegen das Imperium, gelangt
Der Mentor (Weiser Alte) – Obi-Wan Kenobi und Yoda
Obi-Wan Kenobi und Yoda sind klassische Mentoren-Archetypen. Beide bieten Luke Weisheit, Führung und Unterstützung auf seiner Reise an und bereiten ihn auf das höhere Ziel vor.
Der Schatten – Darth Vader
Darth Vader ist der Archetyp des „Schatten“ – die dunkle Seite der menschlichen Psyche, die unterdrückte, negative oder zerstörerische Kraft. Er wird von seinen inneren Dämonen und Ängsten verführt und verfällt der dunklen Seite der „Machts“. Darth Vader symbolisiert den Konflikt zwischen Licht und Dunkelheit innerhalb des Selbst.
Die Anima – Prinzessin Leia
Prinzessin Leia verkörpert den Archetyp der Anima, insbesondere als starke, selbstbewusste Frau, die zwar Hilfe benötigt, aber auch aktiv führt und sich kämpferisch in den Krieg gegen das Imperium einbringt. Sie ist eine kraftvolle weibliche Figur, die das Männliche in der Geschichte ergänzt. (Anima-Animus, anima = Seele, Seelenbild des jeweils Gegengeschlechtlichen)
Der Animus – Han Solo
Han Solo repräsentiert den Animus-Archetypen, da er in vielerlei Hinsicht das männliche Ideal verkörpert – unabhängig, mutig und ein bisschen rebellisch.
Der Trickster – C-3PO und R2-D2
Die beiden Droiden C-3PO und R2-D2 bringen humorvolle und oft unvorhersehbare Momente in die Geschichte, hinterfragen die Normen und schaffen es, in entscheidenden Momenten die Helden zu retten.
Die Große Mutter – Padmé Amidala
Padmé Amidala, die Mutter von Luke und Leia, kann als eine Form der „Großen Mutter“ betrachtet werden, da sie sowohl die nährende als auch die kämpferische Seite der Weiblichkeit verkörpert. Sie ist die politische Anführerin, aber auch eine liebende Mutter, die ihre Kinder für die Zukunft schützt.
Regisseur George Lucas war stark von der Mythologie und den Ideen Jungs inspiriert. Entsprechend ist „Star Wars“ durchzogen von vielen Archetypen, die die tiefere psychologische Struktur der Charaktere und ihrer Entwicklung widerspiegeln.
(Für die Zuordnung der Archetypen zu den Star-Wars-Figuren habe ich mir Unterstützung bei einer KI (ChatGPT) geholt.)
Helden brauchen Konflikte
Damit der Held so richtig seine Stärken ausspielen kann, braucht er Kämpfe (innere und äußere), Konflikte, Gegner, die ihm ebenbürtig sind. Er verlangt nach Herausforderungen, an denen er wachsen, über sich selbst hinauswachsen kann. Schon bei den alten Rittersleut genügte es nicht, der Prinzessin verliebt in die Augen zu schauen. Um sie zu erringen, musste man zuvor mindestens einen mittelgroßen Drachen erledigen oder die „Engelsgleiche“ aus den Klauen eines zweibeinigen Lindwurms mit Löwen-Hinterteil befreit haben.
Der Macho muss nicht lange darüber nachdenken, wie er die Schöne erobert und deshalb ist das kurz und langweilig in einem Satz zu erzählen. Doch, wenn der Schüchterne, Hässliche, Gehemmte trotz seiner Handicaps versucht, seine Auserwählte zu gewinnen oder ihr mindestens das Leben zu retten, dann kann daraus – wie bei Victor Hugo (1802–1885) und seinem „Glöckner von Notre Dame“ – Weltliteratur werden. Quasimodo ist so ein Held, der zwei große Lieben hat, die Glocken und die verführerische Esmeralda. Diese doppelte Liebe treibt ihn an, gibt ihm Kraft und Entschlossenheit und – macht ihn zu einer unverwechselbaren, unvergesslichen Person der Literaturgeschichte.
Beliebte Konflikte
Der Held/die Heldin kann auf einen umfangreichen Katalog an Konflikten zurückgreifen. Beispiele:
1. Die Umwelt verweigert dem Helden Sympathie, Anerkennung, Liebe, Glück. Aber er möchte reich, glücklich, gesund und mächtig sein oder einfach nur in Frieden leben.
2. Seine Interessen und Ziele kollidieren mit den Interessen anderer im Beruf, in der Gesellschaft, im Privatleben.
3. Sein stärkster Gegner ist er selbst. Im Konflikt mit seinem eigenen „Ich“ muss er Gefühle offenbaren, Ängste überwinden, Vorurteile ablegen, um das Ziel zu erreichen.
Spickzettel V zu Charakterisierung
Statt einer Zusammenfassung – Sol Steins Gebote[10]
- Am Anfang war die Figur, dann die Handlung
- Du sollst deinem Helden Fehler und deinem Schurken Tugenden anhaften
- Die Figuren sollen böse Seiten haben
- Du solltest keine Abstraktionen sähen, denn wie ein Liebender fühlt sich der Leser zum Besonderen hingezogen
- Du sollst nicht murmeln, flüstern, brüllen, denn die Wörter selbst und nicht ihre Beschreibung sind das Transportmittel ihrer Lautstärke
- Du sollst deinen Leser mit Unruhe, Angst und nervöser Spannung anstecken
- Eine Sprache soll präzise, klar und auf Engelsflügeln daherkommen
- du sollst nicht vergessen, dass der Dialog eine fremde Sprache ist,
- Du sollst die Gefühle des Lesers wecken und nicht deine Gefühle an dem Leser auslassen
Anregungen für Übung V
Beobachten, Erinnern, Verdichten
Beschreiben Sie einen realen Menschen (Bekannte Vorgesetzte, Kollegen, Freunde, Verwandte). Orientieren Sie sich dabei bitte an den Stichwort-Katalogen aus der Schreibstube: Äußere, Innere, Soziale Merkmale.
Kurzfassung: Wie sieht er aus (Gesicht, Haare, Statur, Kleidung)? Wie spricht er? Hat er Macken, auffällige Sprechgewohnheiten, Redensarten?
Beschreiben Sie eine Situation, in der er sich so verhalten hat, wie es für ihn typisch ist.
Ist er motiviert, was treibt ihn an? Ist er frustriert? Was wissen Sie über seine Familien, seine Herkunft, seine Anschauungen?
Wie charakterisieren ihn andere?
Fassen Sie Ihre Beobachtungen
zu einem kleinen Porträt zusammen. Wenn möglich, legen Sie ihre Beschreibung einem Bekannten vor und lassen Sie ihn raten, um wen es sich bei ihrem Porträt handelt. Decken sich ihre Beobachtungen? Gibt es Unterschiede? Wenn ja, welche und sind diese Merkmale typisch für die von ihnen gestaltete Figur?
Figurenanalyse
Suchen Sie sich bis zu drei Protagonisten aus einem Film, Roman, TV-Spiel heraus und notieren Sie die inneren und äußeren Merkmale der Personen. Welche Adjektive können Sie direkt übernehmen (explizit), welche Merkmale müssen Sie aus den Äußerungen Dritter oder Handlungen (implizit) herausfiltern. Beurteilen Sie abschließend die Gestaltung der Figur.
Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf
Für die nächste Übung gehen Sie in ein Café oder einen anderen öffentlichen Ort, an dem Sie ungestört beobachten und schreiben können. Hier suchen Sie sich eine Person aus, die Ihnen aus irgendeinem Grunde aufgefallen ist.
Jetzt beschreiben Sie diesen Menschen und „beamen“ Sie ihn dann an einen Schauplatz ihrer Wahl. Lassen Sie ihn dort agieren, mit anderen Menschen streiten oder plaudern, dichten Sie ihm nach Herzenslust alles an, was ihn charakterisieren könnte.
Wenn Ihre Fantasie einen Bösewicht schaffen will, lassen Sie es ruhig geschehen.
Mischen, bitte
Das ist eine „richtige Persönlichkeit“ sagt man. Das sagt sich so leicht, aber, was macht die Persönlichkeit aus? Jetzt können Sie sich endlich eine solche „Persönlichkeit backen“. Als Zutaten nehmen Sie reale Beobachtungen, Erinnerungen und Spiegelungen ihrer Fantasie. Es geht nicht um Fakten oder Fiktionen – Hauptsache ist, die Figur ist spannend und – plausibel gestaltet.
Quellenhinweise
:
[1] Otto Kruse, „Kunst und Technik des Erzählens“ (Verlag Zweitausendeins, 2001.
Das Buch wird vom Autor als kostenloses E-Book im PDF-Format zweitverwertet.
Kruse ist Leiter des Zentrums für Professionelles Schreiben an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
[2] Sol Stein, „Über das Schreiben“, 2006, Verlag Zweitausendeins
[3] Otto Kruse, wie oben
[4] Aristoteles „Poetik“ (335 vor. Chr.), reclam Taschenbuch
[5] Die Metapher „„Iceberg“ (Theory) stammt von E. Hemingway und spielt auf das psychologische Strukturmodell von Sigmund Freud an, wonach das menschliche Handeln zu einem geringen Teil bewusst geschieht.
[6] Michael Hauge,“Writing Screenplays that sell” , Collins Reference; Anv edition, 2011
[7] S. Freud (1856 – 1939), Hauptwerke: Die Traumdeutung (1900) Die Psychopathologie des Alltagslebens (1901) und Das Ich und das Es (1923)
[8] C.G. Jung (1875 – 1961) „Archetypen – Urbilder und Wirkkräfte des kollektiven Unbewussten“.
[9] Animus und Anima sind Begriffe aus der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung. Der von C. G. Jung eingeführte, an S. Freuds Auffassung der Bisexualität anknüpfende Begriff von Anima (Animus) geht davon aus, dass jeder Mensch die gegengeschlechtlichen Wünsche verdrängt.
[10] Sol Stein, „Über das Schreiben“, S. 419, Zweitausendein