Schreib-Stunden – 12 Lektionen für Text-Arbeiter

Lektion 8: Erzähler: Guck mal, wer da spricht

Ziel

Vor- und Nachteile von Erzählperspektiven erkennen: Ich-Erzähler, auktorialer, personaler oder neutraler Erzähler?  Welcher „Point of View“ zu meiner Geschichte passt.

Inhalt

Die Erzählperspektive: Guck mal, wer da spricht – Wer braucht einen Erzähler? – Erzähler-Typen – Vier Personen, vier Blickwinkel

Ich-Perspektive: „Ich“ als Ich – Ich,, Claudius – „Ich“ kann auch verrückt sein -Ich – Pro und Contra – Vorsicht, Spannungsabfall – Erleben und erzählen – Einsatz-Beispiele – Augenzeugen-Bericht – Merkmale der Ich-Erzählung

Der auktoriale Erzähler: Der Alleswisser – Beispiele für auktoriale Erzählungen – Aus „Michael Kohlhaas“ – Bei Ernest Hemingway Fontane, Mann, Tolstoi – Merkmale auktorialer Erzählungen

Personale Erzählweise: Der Blickwinkel einer Figur – Dreimal Kafka – Erzählerische Mittel – Er/Sie-Erzähler – ´Psyche und Erzähler – „Berlin Alexanderplatz“ – Merkmale personaler Erzählungen

Der neutrale Erzähler: So objektiv wie möglich – Die scheinbar objektive Kamera – Abbilden vs. Einordnen -Camara Eye: John Dos Passos – Kafka, Hemingways, Fontane – Merkmale des neutralen Erzählens

Spickzettel und ÜbungsvorschlägeDie Erzählperspektive

I. Die Erzählperspektive

Guck mal, wer da spricht

Eine Stimme sagt uns: „Im Himmel ist Jahrmarkt.“  Aber glauben wir das? Oder gucken wir zunächst einmal, WER da überhaupt spricht und wie zuverlässig der Sprecher ist?

Den Chorknaben Jan, der vor allem mit seiner Spiele-Box beschäftigt ist, nähmen wir vermutlich nicht wirklich ernst. Die Figur „Petrus“ ist da schon vertrauenswürdiger und der Redakteur des „Himmlischen Tages-Boten“ kann, muss aber nicht wissen, was über den Wolken gerade gefeiert wird.

Wenn es allerdings eine allwissende Person in Ihrer Erzählung gibt, dann könnte die Behauptung durchaus einen wahren Kern haben.

 In der Literatur nennen wir diese Person „auktorialer“ Erzähler (von lat. auctor, Autor, Urheber). Seine Perspektive ist unbegrenzt, er kann in die Köpfe aller Figuren schauen, er überblickt Handlung, Orte und Personen, er ist quasi allwissend.

Die Erzählperspektive, also der Blickwinkel eines Charakters, ist demnach davon abhängig, welche Rolle die Figur in der Erzählung spielt, wie weit sie die Handlung überblickt, ob sie nur das Äußere beschreiben, oder Gedanken und Gefühle der Figuren erkennen kann.

Wer braucht einen Erzähler?

Aber, die Frage muss erlaubt sein, brauchen wir – und wenn ja wofür – überhaupt einen Erzähler? Ja, brauchen wir, weil wir in der Literatur – im Gegensatz zum Film – nicht sehen können, was in der fiktiven Welt geschieht? Wir brauchen eine Person, die uns erzählt, was gerade, wie, wo, wann und warum passiert, welche Figur auftritt und wie sie, was kommuniziert. Diesen Typ, der uns sagt, was Sache ist, gibt es in vier Gestalten.   

Erzähler-Typen

 Als Autor müssen Sie sich deshalb entscheiden: Erzähle ich die Geschichte aus der Ich-Perspektive, weil ich das alles selbst erlebt oder gar erlitten habe und meine ganz persönliche Sicht auf die Dinge darlegen möchte? Oder berichte ich aus dem Blickwinkel einer Person (personale Perspektive), die einen eigenen „Point of View“ offenbaren kann? Oder versuche ich den Stoff so objektiv wie möglich zu erläutern und nehme dafür die „neutrale Perspektive“ ein.

Bei der Auswahl müssen Sie sich darüber klar sein, dass diese drei Perspektiven nur einen begrenzten Einblick in das Geschehen haben. Weder „Ich“ noch Jan oder der „neutrale Beobachter“ kann wissen, was als nächstes passiert, noch kennt er die Motive, Gedanken, Gefühle der anderen Personen. Wenn Ihr Erzähler den vollkommenen „Über-Blick“ haben soll, müssen Sie sich für die „auktoriale Perspektive“ entscheiden.

Ihre Entscheidung hat Auswirkungen auf die Stimmungslage und Empathie ihres Lesers. Er/sie nimmt die Story direkter oder distanzierter wahr; je nachdem, von wem sie erzählt wird.

Vier Personen, vier Blickwinkel

Beispiel: Der Mai 2025 begann für Merz mit einem Paukenschlag: Der Kandidat der CDU/CSU fiel beim ersten Wahlgang zur Kanzlerwahl durch. 18 Mitglieder der Koalitions-Parteien Union und SPD hatten gegen Friedrich Merz gestimmt. Schauen wir uns diesen für die Bundesrepublik einmaligen Vorgang aus vier unterschiedlichen Perspektiven an.

Friedrich Merz als Ich-Erzähler würde seine tiefe Enttäuschung schildern, seinen Groll gegen die vermuteten Verweigerer, seine Überlegungen, ob er noch einmal antreten sollte, was ihn zum Bittsteller vor den Oppositions-Fraktionen machen würde. Oder wäre der Verzicht auf das Amt eine Alternative?

Saskia E.könnte als personale Erzählerin schildern, wie tief sie von den eigenen Freunden verletzt und gedemütigt worden war und, wie sie sich deshalb entschlossen hatte, dem Kandidaten und der Koalition einen Denkzettel zu verpassen. E. steht hier als erfundenes Beispiel, denn wir wissen nicht, wie sie wirklich abgestimmt hat.

Der Vertreter des „Tagesspiegel“ würde aus der Perspektive des neutralen Erzählers so sachlich wie möglich berichten, wie die Wahl abgelaufen ist und welche Konsequenzen das hat.

Ein auktorialer Erzähler könnte in die Köpfe aller Beteiligten schauen, ihre Motive offenlegen. Leider gibt es diesen „allwissenden“ Erzähler in dieser Geschichte nicht. Schade, denn sonst wüssten wir, wer, warum gegen Merz gestimmt hatte.

II. Die Ich-Perspektive

„Ich“ als Ich

Wo „Ich“ draufsteht, ist zwar immer der Autor drin, aber nur selten sind Autor und „Ich“ eine Person. „Ich“ heißte nur, die Geschichte wird aus der Perspektive einer Person geschildert.
Die Autobiografie ist die naturgegebene Form der Ich-Erzählung. Der Ich-Erzähler blickt zurück auf seine eigene Vergangenheit, berichtet, wertet, erläutert sein Leben oder einen Abschnitt daraus, beichtet oder enthüllt, klagt an oder bittet um Gnade. Er hat inzwischen (hoffentlich) eine gewisse Distanz zu seinem Leben und Werk und kann deshalb mit der „Weisheit des Alters“ darüber urteilen.

Ich, Claudius

Bei einer Autobiographie kann man ja wohl davon ausgehen, dass Autor und Ich-Erzähler identisch sind. Oder? Nein, denn viele (vor allem Prominente) haben einen Schreiber engagiert, der als Person und in der Ich-Form die oft mühevolle Schreibarbeit übernommen hat.

Selbst, wenn auf dem Buchdeckel steht „Ich, Claudius, Kaiser und Gott“, lohnt ein zweiter Blick. Denn der römische Kaiser Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus (10 vor – 54 n.Chr.) hat zwar wohl tatsächlich eine achtbändige Autobiografie verfasst, aber – die ist leider verschollen.

„Ich, Claudius“ wurde 1934 von Robert von Ranke Graves, einst Professor für Dichtkunst an der Universität Oxford, verfasst. Der Gelehrte ist nicht Claudius, aber er hat versucht, die Welt mit den Augen des römischen Kaisers zu sehen.

„Ich“ kann auch verrückt sein

Da Autor und Erzähler meist nicht identisch sind, darf der Ich-Erzähler problemlos in jede Rolle schlüpfen. Er kann „aus einer anderen Welt“ stammen, kann glaubwürdig, unzuverlässig oder verrückt sein wie Oskar Matzerrath in der „Blechtrommel“.

Mit dem ersten Satz der „Blechtrommel“ hat sich Günter Grass für mutmaßlich beschränkt   erklärt und damit alle Freiheiten für sich reklamiert: “Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt…” Der Satz ist quasi ein Freibrief für Grass, um Merkwürdigkeiten aller Art schildern und Zweifel am Wahrheitsgehalt streuen zu können. Sein Ich-Erzähler, Oskar, sitzt in einer Anstalt, weil er zu einem „normalen Leben“ außerhalb dieser Mauern nicht fähig zu sein scheint. Ist er gestört, verwirrt, verrückt – oder doch „völlig normal“?  Wie ernst muss man nehmen, was er sagt?

„Ich“ – Pro und Contra

Das erzählende „Ich“ kann problemlos wechseln zwischen seinen Gedanken, seinen Gefühlen und seinen Wahrnehmungen.  Es kann in der Zeit „reisen“, sich erinnern oder Visionen ausmalen. Dafür bleibt ihm allerdings verschlossen, was in Herz und Hirn anderer Figuren vorgeht

Die „Ich-Perspektive“ wird gerne genommen. Vielleicht, weil sie auf den Leser besonders glaubhaft wirkt. Irgendwie erinnert sie an das vertraute Gesprächsmuster, „ich muss euch mal etwas erzählen…“ Und nach dieser Einleitung kann ja eigentlich nur wahrhaft Wahres folgen…

Das „Ich“ zwingt den Autor natürlich auch, sich besonders intensiv mit dem Helden zu befassen und sich stärker mit ihm zu identifizieren als mit anderen Personen. Er schlüpft in diese Rolle wie ein guter Schauspieler, der sich in seine Figur einfühlt.

Vorsicht, Spannungsabfall

Problematisch sind Urteile, die der Ich-Erzähler über das Ich fällt. Wer mag schon – ohne einen Anflug von Ironie – von sich behaupten: „Ich bin schön, ich bin intelligent, charmant und gebildet? Und natürlich sehr bescheiden.“ Derartige Urteile muss der Ich-Erzähler einem Dritten überlassen, wenn es nicht überheblich, arrogant und provokant klingen soll

Vorsicht ist geboten, wenn Sie eine Geschichte erzählen wollen, in der der Held sein Leben aufs Spiel setzen muss. In der Ich-Perspektive können manche Szenen nur auf Kosten der Spannung -dargestellt werden. Angenommen das „Erzähler-Ich“ steht in „High-Noon“-Manier Aug in Aug auf der Dorfstraße dem bösen Feind gegenüber. Der Feind schießt und … Da das Buch noch 123 Seiten hat, können sich auch phantasiearme Leser leicht ausmalen, wie die Geschichte weiter geht.

Erleben und erzählen

Die Figur, die sich als „Ich“ ausgibt kann in zwei Funktionen auftreten: Das „erlebende Ich“ oder das „erzählende Ich“. Wenn die Figur unmittelbar in die aktuelle Situation verwickelt ist, kann sie das Erlebnis nur schildern, weiß aber nicht, wie die Handlung weitergeht und nur bedingt, wie die Lage einzuordnen ist.

Das „erzählende Ich“ blickt mit Abstand auf das Geschehen zurück, kann es einordnen, kommentieren und über die Konsequenzen informieren. Seine Sicht ist also wesentlich weniger beschränkt als die des Berichterstatters, der quasi „live“ einen Vorfall erlebt.

Einsatz-Beispiele der Ich-Form

Eingesetzt wird die Ich-Form vor allem, wenn es um das Innenleben, die innere Zerrissenheit, die nicht verarbeiteten Konflikte oder Probleme mit der Identität einer Person geht.

Trauma: Da ist ein 14jähriges Mädchen, das vergewaltigt wurde und auch Monate später immer noch unter diesem traumatischen Erlebnis leidet. Glaubhaft lässt sich ein solches Ereignis m.E. nur aus der Ich-Perspektive schildern. Nur diese Form lässt unmittelbar mitleiden, mitfühlen.

Innerer Konflikt: Karl E. hat ein Kind mit dem Auto überfahren und sich vom Unfallort entfernt. Seither leidet er unter Schlaflosigkeit, ist verzweifelt, die Schuldgefühle zerstören sein Leben. Soll er sich stellen oder…?

Identitätskrise: „Ich bin nicht Stiller! Ich kann nicht dafür, dass ich aussehe wie Stiller. Ich bin nicht Stiller!“ So eröffnet Max frisch seinen Roman „Stiller“.  Durch die Ich-Perspektive wird der Leser sofort, unmittelbar mit der Identitätskrise (besser mit der Identitätsverweigerung) des Protagonisten konfrontiert. Jede andere Erzählform würde Distanz zwischen Leser und Stillers innerer Zerrissenheit aufbauen.

Authentizität: Heinrich Böll macht in seinem Roman „Das Brot der frühen Jahre“ den Hunger zum Symbol der Nachkriegszeit. Böll wählt den Ich-Erzähler, um das Problem zu personifizieren und glaubhaft zu machen:

„Als ich an jenem Montag gegen halb drei Uhr zur Waschanstalt ging, dachte ich an Brot. Ich dachte nicht an Brot, weil ich Hunger hatte – ich hatte keinen Hunger –, sondern ich dachte an Brot, wie ein anderer an Geld oder an Musik denkt, weil ich in den Jahren des Hungers an nichts anderes hatte denken können.“

Bölls Ich-Erzähler (Walter) vermittelt glaubhaft, wie die Nachkriegszeit seine Gedanken und Empfindungen geprägt, ihn psychologisch geformt haben.

Kindheits-Trauma: Gleiches gilt für traumatische Kindheitserinnerungen. E.T.A. Hoffmann erinnert sich in seiner Erzählung „Der Sandmann“ an die Schreckensgeschichte, die seine Amme den Kindern erzählt hatte und die er immer noch nicht verarbeitet hat: „Der Sandmann ist ein böser Mann, der den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, die Augen aus dem Kopf wirft und sie in einen Sack steckt und mitnimmt auf den Halbmond zur Speise für seine Kinder.“

Augenzeugen-Bericht

Der Ich-Erzähler ist die zentrale Figur. „Ich“ schildere, was ich wahrnehme, fühle, erfahre, erlebe. So wie Daniel Defoes Robinson Crusoe, der 1659 Schiffbruch erlitt und fast 30 Jahre auf einer Insel vor der Küste Südamerikas lebte:

„Nun war ich heil gelandet, sah mich um und dankte Gott, dass er mein Leben, das wenige Minuten zuvor verloren schien, gerettet hatte. Ich glaube, es ist unmöglich, den Lebenden das Entzücken und den Jubel der Seele zu schildern, wenn sie so, ich darf wohl sagen, aus dem leibhaftigen Grab errettet wurden.“[1]

Die Ich-Perspektive bietet sich außerdem an, wenn ein eher abstraktes, allgemeines Problem durch eine persönliche Sichtweise emotionalisiert werden soll.

Merkmale der Ich-Erzählung

Perspektive: Der Ich-Erzähler ist Teil – meist Mittelpunkt – der fiktiven Handlung. Seine Sicht ist deshalb subjektiv. Das „Ich“ kann sich irren und lügen.

Begrenzung: Das „Ich“ kann nur über seine eigenen Gedanken und Gefühle berichten. Sein Wahrnehmungsvermögen ist auf das Äußere beschränkt. Über alles, was darüber hinausgeht, ist es auf Vermutungen und Indizien angewiesen.

Reflexion: Die Ich-Perspektive ist deshalb besonders geeignet, wenn es um die „Auseinandersetzung“ mit sich selbst geht, wenn eine Figur die eigenen Handlungen und Überzeugungen reflektieren und hinterfragen soll.

Wirkung: Das „Ich“ schafft Nähe, Unmittelbarkeit. Man kann sich leicht mit ihm identifizieren, es als Projektionsfläche nutzen und Empathie entwickeln. Die Distanz zwischen Leser und handelnden Personen wird drastisch verringert, weil die Story erzählt wird, ohne dass sich eine dritte Person dazwischenschiebt.

III. Der auktoriale Erzähler

Der Alleswisser

Der „auktoriale Erzähler“ (von lat. Auctor, Autor) gebärdet sich wie ein „höheres Wesen“. Er hat sich eine Welt „geschaffen“, hält sich aber darin nicht auf. Sein Platz ist im Olymp. Er ist „allwissend“, kennt den Verlauf des Geschehens und weiß, warum seine Personen so und nicht anders handeln.

Seinen fast „göttlich“ anmutenden Überblick kann er nutzen, um problemlos die Schauplätze seiner Geschichte zu wechseln oder die chronologische Abfolge der erzählten Ereignisse zu verändern.

Beispiele für auktoriale Erzählungen

Die auktoriale Erzählsituation herrscht vor allem im Roman des 17/18. Jahrhunderts vor.[2] Ein typisches Beispiel dafür ist die Novelle von Heinrich von Kleist[3] (1777-1811). Die (kursiv gehaltenen) Ergänzungen im folgenden Textauszug aus Kleists Novelle sollen zeigen, wie und in welcher Form der auktoriale Erzähler agiert:

Aus „Michael Kohlhaas

„An den Ufern der Havel lebte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.
 (Der Erzähler bewertet die Figur. Die Paradox-Konstruktion „rechtschaffend vs. Entsetzlich“ lässt aufhorchen

Dieser außerordentliche Mann würde bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. (Vorhersage, prophetisch)

Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte. (Draufschau, Personalkenntnis: Herkunft, Beruf, Heimat der Titelfigur)

Die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte. (Innensicht Figuren)
Kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. (Vorschau).
Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder. (Motiv, Wertung).

Werten, vorhersagen, innen- und außen Ansichten – der auktoriale Autor ist eben ein Alleswisser.

Aus „Francis Macomber“

Auktoriale Elemente finden sich auch in modernen Erzählungen. In „Francis Macomber“nutzt Ernest Hemingway beispielsweise diese Perspektive, um die Gefühle eines angeschossenen Löwen zu offenbaren.

„Alles in ihm, Schmerz, Übelkeit, Hass und alle ihm verbliebene Kraft verdichtete sich zum Sprung. Er konnte die Männer sprechen hören, und er wartete und presste sein ganzes Sein in diese Vorbereitung zum Angriff – die Männer sollten nur das Gras betreten…“[4]

Weitere Beispiele

Theodor Fontane „Effi Briest“ 1895):

„Effi war nicht bei der Sache. […] Sie sah beständig nach der Uhr, die über der Tür hing. Immer war sie von dem Gefühl bewegt, als ob etwas Furchtbares geschehen müsse. […] ‘Du liebe Güte, was bin ich für ein Mensch’, sagte sie vor sich hin, ‘und wie wird das enden?’“

Der auktoriale Erzähler kennt die Gedanken und Gefühle der Figur und zeigt ihre Nervosität. Innen- und Außensicht.

Thomas Mann, „Buddenbrooks“, 1901

„Was er las, war nicht weiter schwer. […] Aber es war, als wolle sein Geist sich nicht recht unterordnen. Er ließ sich leicht ablenken, und dann kamen Bilder, die mit den gedruckten Worten nichts zu tun hatten. […] Er war ein stiller, zarter Knabe mit einem Hang zum Träumen. Kein Lehrer mochte ihn recht erfassen, denn er entsprach keiner Regel.“

Der „Auktoriale“ tritt in die innere Welt eines Kindes ein, er analysiert sein Wesen und untersucht seine Wirkung auf andere. Er weiß mehr als die Figur selbst („Kein Lehrer…)

Leo Tolstoi „Krieg und Frieden“ 1869:

„Prinz Andrej blickte in den dunklen Himmel. […] Und plötzlich wurde ihm klar, wie sinnlos der Krieg, wie unbedeutend der Mensch sei. […] In dieser Minute fühlte er nichts mehr von Angst oder Ehrgeiz, sondern nur Frieden – jenen tiefen, seltsamen Frieden, der über das Leben hinausgeht.“

Auch hier kennt der Erzähler die Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse der Figur, obwohl nicht aus der Ich-Perspektive berichtet wird.

Merkmale auktorialer Erzählungen

Perspektive: Der Erzähler ist eine fiktive (erdachte) Figur, die dem Leser die Story präsentiert. Sie steckt nicht in, sondern steht über der Handlung. Sie überblickt sie, kann sie raffen, in der Zeit springen, Vergangenes nachträglich beleuchten oder auf   zukünftige Ereignisse hinweisen.

Begrenzung: Nur einer kann die Allwissenheit des „Auktorialen“ begrenzen – der Autor. Er allein bestimmt, wie viel der Erzähler von seinen umfassenden Kenntnissen verraten darf. Nach der narrativen Logik aber weiß der „Auktoriale“ grundsätzlich alles. Er kennt das Ensemble und kann ihm in die Köpfe und Herzen schauen. Und das gilt für jede Figur in allen Handlungssträngen.

Reflexion: Der auktoriale Erzähler kann die Handlung kommentieren, lässt Reflexionen und Urteile einfließen. Er kommuniziert mit dem Leser, liefert ihm Erklärungen und spricht ihn gelegentlich sogar direkt an.

Wirkung:  Die Form sorgt auch bei komplexen Abläufen dafür, dass der Leser orientiert bleibt und ein vollständiges Bild über die Handlung und die Motive der Charaktere erhält.

Allerdings ist die Distanz zwischen Leser und dem Protagonisten größer und damit die Empathie-Chance geringer, weil zwischen beiden eine dritte Person, der Erzähler, steht. Man erlebt die Geschichte nicht unmittelbar mit den Figuren, sondern hört eine Geschichte über die Figuren.

Vorsicht ist bei Verweisen auf künftige Ereignisse geboten. Vorausschauen können Spannung reduzieren. Kommentare und Einordnungen werden möglicherweise als aufdringlich oder belehrend empfunden. 

IV. Personale Erzählweise

Der Blickwinkel einer Figur

Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf, räkeln sich noch einmal und öffnen die Augen, trauen ihnen aber nicht. Denn, was Sie sehen, ist unglaublich. Sie haben sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt.

Wenn Ihnen das wirklich passiert wäre, hätten Sie jetzt vermutlich andere Sorgen als sich um die Erzählperspektive zu kümmern. Aber anders als Franz Kafka in „Die Verwandlung“, können wir uns hier und jetzt mit dieser scheinbar nebensächlichen Frage befassen.

Die typischen Merkmale der einzelnen Erzähl-Perspektiven habe ich gefettet, um noch einmal die unterschiedlichen Blickwinkel deutlich zu machen.

Dreimal Kafka

„Als ich (Gregor Samsa) eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. (…). ‚Was ist mit mir geschehen?‘, dachte ich. Es war kein Traum.“

Das „Ich“ kann sich wundern, sich fragen, wie das passieren konnte – beantworten kann es seine Frage nicht. Dafür bedarf es einer allwissenden Person, den auktorialen Erzähler, wie in der folgenden Variante:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. (…). ‚Was ist mit mir geschehen?‘, dachte er. Es war kein Traum. Es war ein Wunder, ein höheres Wesen hatte ihm einen furchtbaren Streich gespielt.(Nur ein Auktorialer kann wissen, warum Gregor zum Insekt verwandelt wurde.)

Genau wie der Ich-Erzähler hat auch der personale Erzähler, den Kafka im Original eingesetzt hat, nur einen begrenzten Einblick in das Geschehen. Sein Blickwinkel ist exakt so begrenzt, wie die Perspektive der Figur, über die er erzählt:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. (…). ‚Was ist mit mir geschehen?‘, dachte er. Es war kein Traum.“[5]

Erzählerische Mittel des „Personalen“

Kafka hat in diesem Auszug die „direkte Rede“ eingesetzt, aber auch andere erzählerische Mittel sind nutzbar, um das Innere des Charakters zu beleuchten. Etwa die indirekte Rede, der innerer Monolog oder die erlebte Rede. Sie alle dienen als Transportmittel für die Gedanken und Gefühle des Protagonisten. Hinzu kommt der Erzählbericht für die Darstellung der äußeren Details, die die Figur wahrnimmt.

Rückschlüsse auf den Charakter oder die Motive der anderen Ensemble-Mitglieder kann der Leser nur ziehen, wenn der „Personale“ deren Mimik, Gestik, Taten oder Pläne schildert. Diese Eindrücke sind selbstverständlich subjektiv. Nur der auktoriale Erzähler kann, wenn es der Autor denn so will – objektive Erkenntnisse einbringen.

Er/Sie-Erzähler

Im Allgemeinen hält sich der personale Erzähler in der Handlung weitgehend zurück und kommuniziert nicht mit dem Leser. Aber er ist untrennbar mit der Figur verbunden, über die er erzählt, ohne selbst diese Figur zu sein. Deshalb berichtet er über seinen Protagonisten in der dritten Person Singular. Das brachte ihm auch die Bezeichnung „Er/Sie-Erzähler“ ein.

Dieses Personalpronomen ermöglicht außerdem, dass der „Personale“ (anders als der Ich-Erzähler) nacheinander über mehrere Figuren erzählen kann.

Psyche und Erzähler

Psychische Prozesse, Einschätzungen oder auch Urteile eignen sich besonders für die personale Form. Der „Ich-Erzähler“ wird sich eher nicht selbst als „den schönsten Mann von ganz Berlin“ bezeichnen. Doch der „Personale“ kann seine Figur jederzeit mit solchen Attributen belegen, ohne dass das ironisch wirkt. Das Repertoire psychischer Prozesse reicht von der Reaktion auf ein Ereignis, über Bemerkungen, Einschätzungen und Urteile über andere Figuren. Nur, wie es drinnen (in den fremden Charakteren) wirklich aussieht – das kann der „Held“ des personalen Erzählers nicht wissen.

Beispiel „Berlin Alexanderplatz“

In Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“[6] finden wir typische Merkmale der personalen Erzählform. Äußere und innere Wirklichkeit gehen durch die szenische Darstellung und den inneren Monolog ineinander über:

„Wie Franz Biberkopf nach einer Woche mit einem Strauß in Seidenpapier gemächlich die Treppe hochsteigt, denkt er an seine Dicke, macht sich Vorwürfe, aber nicht ganz ernst, bleibt stehen, sie ist ein goldtreues Mädel, wat sollen die Zicken, Franz, pah, ist Geschäft, Geschäft ist Geschäft.

Da klingelt er, lächelt in Vorahnung, schmunzelt, warmer Kaffee, ein kleines Püppchen. Da geht einer drin, das ist sie. Er wirft sich in die Brust, präsentiert vor der Holztür den Strauß, die Kette wird vorgelegt, sein Herz klopft, mein Schlips, ihre Stimme fragt: „Wer ist da?“ –  Er kichert: „Der Briefträger.“

Kleine schwarze Türspalte, ihre Augen, er bückt sich zärtlich herunter, schmunzelt, wedelt mit dem Bukett. Krach. Die Türe zu, zugeschlagen.  Der Riegel wird vorgeschoben. Donnerwetter. Die Tür ist zu. Son Biest. Da siehst Du. Die ist wohl verrückt. Ob die mich erkannt hat. Braune Tür, Türfüllung, ich steh auf der Treppe, mein Schlips sitzt. Ist gar nicht zu glauben. Muss nochmal klingeln, oder nicht. Er blickt auf seine Hände, ein Bukett, hab ich vorhin an der Ecke gekauft, für eine Mark, mit Seidenpapier…“

Merkmale der personalen Erzählung

Perspektive: Der personale Erzähler übernimmt meist komplett den Blickwinkel einer Person. Er sieht also die Welt durch die Augen des Protagonisten.

Begrenzung: Der dargestellte Charakter hat normalerweise keinen Überblick über die Handlung, kann vor allem nicht hinter die Stirn der anderen Figuren schauen und weiß auch nicht, wie die Story weitergeht. Die Einsicht der Figur und damit die des Erzählers ist auf das persönliche Umfeld des Charakters beschränkt. Die Wahrnehmungen der Figur sind subjektiv.

Reflexion: Die Figur reflektiert (lat. Reflectere zurückwerfen, spiegeln) Handlungen und Ereignisse ihrer Welt. Auch hier handelt es sich um einen Ausschnitt aus der fiktiven Geschichte. 

Wirkung: Die personale Form ermöglicht einen tiefen Einblick in das (fiktive) Leben der Figur, weil wir die Welt durch ihre Augensehen. Der Leser ist unmittelbar ins Geschehen eingebunden. Er kann mit dem Protagonisten lachen und leiden. Und da er nicht weiß, wie die Handlung weitergeht, was mit ihm passiert, ist für Spannung gesorgt.

V. Der neutrale Erzähler

So Objektiv wie möglich

Der neutrale Erzähler (besser Berichterstatter) greift weder als erkennbar auktorialer Erzähler ins Geschehen ein, noch wählt er die individuelle Optik eines der Beteiligten. Er zieht sich vielmehr ganz aus der Figurenwelt zurück, wird quasi „de-personalisiert“.  Er mischt sich weder bei szenischen Darstellungen noch bei beschreibenden oder berichtenden Passagen ein.

Erzählt wird in der Er/Sie-Form. Dazu kommen Passagen, in denen die Figuren sich in der Ich-Form äußern. Es wird also nur erzählt, was von außen wahrnehmbar ist und was gesagt wird.

Die Berichterstattung ist distanziert und bemüht, die Vorgänge möglichst objektiv darzustellen; so, als bildeten gefühlsfreie technische Instrumente statt menschlicher Sinne das Ereignis ab.

Die scheinbar objektive Kamera

US-Autor John Dos Passos (1896 – 1970) beispielsweise schrieb Romane aus einer Perspektive, die an einen „Kamerablick“ (Camera Eye) erinnern. Der Leser nimmt wahr, was die scheinbar objektive Kamera „sieht“, ohne dass ihm diese Erzählfigur sofort bewusstwird.

Auch der Kamerablick kann naturgemäß nicht völlig objektiv sein. Der Erzähler steht nur – mehr oder weniger verdeckt – hinter der Kamera. Aber er wählt subjektiv einen Ausschnitt aus der Umwelt und lässt somit andere Teile der Wirklichkeit weg. Er komponiert das Bild nach ästhetischen oder dramaturgischen Gesichtspunkten und passt den Bildausschnitt seinem Aussagewunsch an.

Beispiel: Die (Kamera-)Totale zeigt ein afrikanisches Dorf unter Palmen. Das suggeriert Urlaubsfeeling.  Dieselbe Totale mit einer Ratte im Vordergrund vermittelt den Eindruck von Unrat und Armut.

Abbilden vs. Einordne

John Dos Passos versuchte sich so weit wie möglich selbst zu objektivieren. Er beschreibt das Innenleben seiner Figuren nicht mit „Verzweiflung“ oder „Angst“ oder „Hass“, sondern liefert Indizien, die den Leser auf Verzweiflung, Angst oder Hass schließen lassen können. Hier ein Auszug:

„Auf der anderen Seite schleppten Feuerwehrmänner halb ohnmächtigen Frauen eine Leiter hinunter, die Flamme in der Mitte des Hauses wurde noch heller. Etwas Schwarzes war aus dem Fenster gestürzt und lag kreischend auf dem Pflaster. Die Schutzleute trieben die neugierige Menge an die Enden des Häuserblocks zurück.

Wieder fuhren Feuerspritzen vor. „Fünfmal hat es Alarm gegeben“, sagte der Mann. „Wie finden Sie das? In den zwei obersten Etagen saßen sie wie in einer Falle. Das muss ein Brandstifter gewesen sein, ein gottverdammter Pyromane. Auf dem Eckstein neben der Gaslaterne hockte vorübergebeugt ein junger Mann. Ein Mann, von der Menge hingeschoben, stand plötzlich dicht neben ihm. „Ein Italiano.“  – „Seine Frau ist im Haus.“  – „Die Blauen wollen ihn nicht rein lassen.“ – „Seine Frau ist in anderen Umständen. Er kann nicht Englisch, er kann es den Blauen nicht sagen.“

Der Mann trug graue Hosenträger, die am Rücken mit einem Stück Bindfaden zusammengeknüpft waren. Seine Schultern hoben und senkten sich, ab und zu stieß er einen Schwall jammernder Wörter hervor, die niemand verstand.“[7]  

Der Bericht gibt wieder, was für Kamera und Mikro erfassbar gewesen wäre: Die erkennbaren Ereignisse auf dem Schauplatz und die Aussagen der Augenzeugen. Aber es gibt keinen erkennbaren Erzähler, der Fragen stellt, kommentiert, einordnet oder Dinge und Personen beurteilt. Es ist als hätte jemand die Aufnahmegeräte platziert und dann den „Tatort“ verlassen.

Weitere Beispiele

Wenn ich hier noch einmal auf das berühmte Kafka-Zitat aus „Die Verwandlung“ zurückkomme, dann liegt das an dem „personalen Erzähler“ Gregor Samsa. Kafkas Figur berichtet so sachlich, wie es ein „neutraler Erzähler“ kaum besser machen könnte.

Zur Erinnerung das Zitat: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. (…). ‚Was ist mit mir geschehen?‘, dachte er. Es war kein Traum.“[8]

Das Ereignis ist absolut absurd, aber es wird völlig sachlich, ohne jede Emotion, ohne jede Erklärung erzählt. Niemand zeigt sich erstaunt, entsetzt – der Bericht bleibt kühl, distanziert, gibt unaufgeregt die Fakten wieder. Der Leser kann denken, was er will – der neutrale Bericht liefert lediglich die Fakten als Basis für seine Meinungsbildung.

Ernest Hemingway,

„Berge wie weiße Elefanten“: „Sie stellte die Filzuntersetzer und die Biergläser auf den Tisch und blickte den Mann und das Mädchen an. Das Mädchen wandte den Blick ab, den Bergen zu. Sie waren weiß in der Sonne, und das Land war braun und trocken.“

Die beobachtbaren Handlungen werden beschrieben, aber es bleibt zunächst im Dunklen, warum das geschildert wird, oder was die Blicke bedeuten oder welche Rolle die Berge spielen.

Theodor Fontane,

„Effi Briest“: „Effi war ein schönes Kind von siebzehn Jahren, schlank, mit einem frischen Gesicht und braunen Haaren.“

Fontane beschreibt in diesem Zitat sachlich das Aussehen seiner Protagonistin, ohne zu werten oder zu emotionalisieren.  Das Urteil bleibt dem Leser vorbehalten.

Merkmale des „Neutralen“

Perspektive: Der neutrale Erzähler blickt von außen auf das Geschehen. Er kann nur wiedergeben, was sichtbar/hörbar geschieht.

Begrenzung: Er ist kein Teil der fiktiven Welt. Er kann weder über das Innenleben der Figuren berichten noch Zusammenhänge zwischen Ereignissen und Personen darstellen.

Wenn er Aussagen über Charaktere machen möchte, ist er auf äußere, beobachtbare Merkmale angewiesen.

Form: Personen und deren Zitate werden in der dritten Person Singular reportiert. Die Erzählform erinnert an einen journalistischen Bericht der frei von eigenen Meinungen und Bewertungen zu sein hat und sachlich (so objektiv wie möglich) wiedergibt, was geschehen ist. Das Format gilt als glaubwürdig, drängt dem Leser keine vorgefasste Meinung auf, sondern lässt ihm Interpretationsmöglichkeiten.

Allerdings kann es bei der unkommentierten Form leicht zu Missverständnissen, zu Fehlinterpretationen kommen. Ein tränenüberströmtes Gesicht kann beispielsweise auf Schmerzen hinweisen, aber es könnte auch Trauer oder Angst bedeuten. Die Wertung entzieht sich dem neutralen Beobachter

Wirkung: Da nur das Beobachtbare dargestellt wird, muss der Leser selbst herausfinden, was hinter dem Ereignis steckt, welche Zusammenhänge es mit anderen Informationen gibt, welche Motive eine Rolle gespielt haben könnten. Mitdenken ist gefragt.

Die Emotionalisierung dieser Form ist weniger stark als bei den anderen Formaten. Eine Dramatisierung des Geschehens muss ausschließlich durch Fakten erfolgen.

VI. Spickzettel und Übungsvorschläge

Spickzettel: Wer spricht und warum?

Franz Karl Stanzel[9] ordnet drei Typen von Erzählsituationen in einem Typenkreis an. Jeder Typus ist durch eine bestimmte Kombination von Merkmalen gekennzeichnet:

Perspektive: entweder Außenperspektive (auktorial), Innenperspektive (Ich) oder eine Mischung aus beidem (personal)

Erzählerfigur: Die Erzählerfigur vermittelt dem Leser die Handlung selbst (Ich + auktorialer Erzähler) oder die Geschichte wird dem Leser, scheinbar ohne dominanten Erzähler, durch die „Augen“ einer handelnden Person (Reflektorfigur/personaler Blickwinkel) vermittelt

Beziehung: Die Erlebniswelten von Erzähler und Figuren sind identisch (Ich) oder sie sind voneinander getrennt, das heißt, der Erzähler bewegt sich nicht in derselben Welt wie seine Figuren (neutraler/auktorialer Erzähler)

Welcher Erzähler für welche Geschichte?

Der Erzähler, Verzeihung für die Plattitüde, ist derjenige der die Geschichte (scheinbar) erzählt. Das „Scheinbar“ ist wichtig, weil der Erzähler eine fiktive Figur ist, die nicht mit dem Autor verwechselt werden darf. Oskar erzählt die „Blechtrommel“-Geschichte. Er sitzt in einer „Irrenanstalt“, Günter Grass nicht.

Ich-Erzähler:
Diese Perspektive ist sinnvoll, wenn die Story sonst nicht glaubwürdig wäre, wenn man den Protagonisten durch die Innensicht charakterisieren will, wenn nicht nur das Handeln, sondern gleichermaßen Gefühle, Werte, Prägungen, Motive der Figur wichtig sind und „unmittelbar“ vermittelt werden sollen.   

 Auktorialer Erzähler
Diesen Blickwinkel nutzt man, wenn die Geschichte nicht nur aus der Sicht einer einzigen Person erzählt werden soll, wenn man mehrere Figuren und deren Innenleben an unterschiedlichen Schauplätzen darstellen und man eine zu starke Identifikation mit einer der Figuren vermeiden möchte.

Personaler Erzähler/Er/Sie-Geschichten
Ein Teil der Geschichte wird aus dem Blickwinkel einer handelnden Person erzählt. Die Darstellung erfolgt in der dritten Person Singular. Das ist die Perspektive, die gerne bei Action-Stories eingenommen wird, wenn die Handlung dominanter ist als das Erzählen.

Der neutrale Erzähler
Er tut so als hätte er keine besondere Perspektive, sondern sei der reinen Sachlichkeit verpflichtet. Er erzählt, was sichtbar oder hörbar ist, ohne es zu werten. Diese Form der scheinbar objektiven „Berichterstattung“ ist gängiges Stilmittel beispielsweise im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Private Sendeanstalten versuchen das Geschehen dagegen häufig aus der Perspektive des (kleinen) Mannes zu betrachten.

Anregungen zu Übungen
Lasst sie reden

Ich möchte Sie gerne zu einer kleinen „Sehschulung“ einladen, damit Sie die Welt einmal mit anderen Augen sehen. Betrachten Sie dazu einfach eine Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln…

Unterschiedliche Sichtweisen

Versetzen Sie sich bitte in die Rolle ihres Vaters/ihrer Mutter als Sie Ihren ersten Freund/Freundin nach Hause brachten, der/die so gar nicht nach dem Geschmack ihrer Eltern war. Beziehen Sie dabei auch die offenen oder unausgesprochenen Reaktionen auf ihre Argumente für den Freund mit ein. 

Markt und Menschen
Die Ausgangssituation

Anna und Anton (beide 70) haben ihre Ersparnisse auf Empfehlung ihres Beraters Bernhard in ihrer Filialbank in Festgeld bei einem ausländischen Geldinstitut angelegt. Das Kapital sollte dem Enkelkind Claudia ein sorgenfreies Studium ermöglichen. Bernhard hatte ihnen erklärt, dass die anvisierte Bank zwar keine Einlagensicherung biete, aber dafür wirklich hohe Zinsen ausschütte. Während der Laufzeit meldete die ausländische Bank Insolvenz an.

Aufgabe 1. Schildern Sie bitte die Erkenntnisse, Empfindungen und Reaktionen von Anna und Anton aus der Ich-Perspektive.

Aufgabe 2. Das Enkelkind Claudia wird ihr Wunsch-Studium vermutlich nicht aufnehmen können, ohne sich nachhaltig zu verschulden. Versuchen Sie bitte den Vorfall aus dem Blickwinkel des Enkelkindes darzustellen (personaler Erzähler).

Aufgabe 3. Wie hat Bankberater Bernhard, der an die Vorgaben der Bank gebunden war, die Situation wahrgenommen. Was empfindet er heute?  Auch hier nehmen Sie bitte die Perspektive des personalen Erzählers ein.

Aufgabe 4. Schreiben Sie bitte eine Erzählung aus der auktorialen Perspektive über Markt und Menschen, bei dem die Motive der Beteiligten deutlich werden.

Viel Spaß und viele neue Erkenntnisse.

Quellenhinweise


[1] Daniel Defoe, „Robinson Crusoe“,Anaconda-Verlag, 2011

[2]  http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/auktorial.htm, download Nov. 2012

[3] Heinrich von Kleist, „”Michael Kohlhaas”reclam 1986

[4] Ernest Hemingway, „Die Stories“, Rowohlt, 2009

[5] Franz Kafka, „Die Verwandlung“, Erzählung, 1915

[6] Alfred Döblin, „Berlin Alexanderplatz – Die Geschichte von Franz Bieberkopf“,dtv, 1965

[7]   (John Dos Passos, „Manhattan Transfer“, rororo, 1966

[8] Franz Kafka, „Die Verwandlung“, Erzählung, 1915

[9] Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen 1995.(Lehrbuchsammlung UB)

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