Zeuge der Wende: Die Frau am Tor/ Das Interview zum Buch

Mit „Zeuge der Wende – Das war mein RIAS TV“ legt Gerhard Specht ein Buch vor, das einen Spagat zwischen Zeitgeschichte und Autobiografie versucht. Ist der Spagat gelungen? Im  Gespräch mit Wilfried Hub* nimmt der Autor Stellung.

Stichworte: Um was es gehtt – Neues zur Wendezeit? – Objektivität als Aufgabe – Reimereien und ein Scharzer Kanal – Die Nacht der Nächte – Die Wende nach der Wende – Raubzüge im Osten – Ein Wendehal im Studio – Der Autor als Grenzorgan – Was blieb von RIAS TV? – Wer ist Wilfried Hub?

Um was geht es in Ihrem neuen Buch?

In „Zeuge der Wende“ erzähle ich einen wichtigen, spannenden Abschnitt meines Lebens. Ich kam aus West-Deutschland nach Berlin und wurde Teil der Gründungs-Crew für ein neues Fernsehprogramm. Und das im wohl interessantes Teil Deutschlands. Im Buch gibt es also einen Dreiklang aus Zeit- und Mediengeschichte sowie aus ganz persönlichen Erlebnissen.

Wilfried Hub, Journalist und Verleger

Geschildert wird 1. die Entwicklung in der DDR und im Ostblock von der friedlichen Revolution bis zur Wiedervereinigung. 2. Der Weg des Senders, der sein Programm zunächst regional, dann bundesweit und schließlich global, also rund um die Uhr, rund um die Welt ausstrahlte. Der dritte Strang zeigt ein Stück Alltag der späten 80er Jahre in und um Berlin sowie den Versuch, die Nacht der Nächte mit der kurz bevorstehenden Geburt unserer Tochter irgendwie in Einklang zu bringen.

Es ist kein wissenschaftliches Werk geworden, aber – wie ein Kritiker schrieb – ein im besten Sinne auch unterhaltsames Buch zum wichtigsten Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte.

Einen umfangreichen Teil der Arbeit nimmt die Vorgeschichte des 9. November 1989 ein. Dabei geht die narrative Verbindung zum Sender gelegentlich verloren.

RIAS-TV hat die Wendezeit begleitet und immer wieder kritisch untersucht. Aber ich wollte die Ereignisse des Jahres 1989 auflisten ohne ständig zu betonen, dass wir darüber berichtet haben.

O.K., der Zeitraffer in dem ich die Ereignisse von März bis November 1989 zusammengefasst habe, ist vielleicht etwas zu lang geworden, aber ich habe auch viele Stimmen gehört, die genau das lesen wollten, um sich noch einmal an die Geschichte zu erinnern oder neue Fakten kennenzulernen. Und außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass die Dramatik dieser Monate erst in dieser gerafften Zusammenschau deutlich wird. Der 9. November ist nicht vom Himmel gefallen, aber trotzdem hat ihn keiner von uns vorausgesehen.

Ist über die Wendezeit nicht schon alles gesagt?

Es ist ein Menge und eine Menge Kluges gesagt worden. Insbesondere die Sicht der Betroffenen ist in vielfältiger Form dokumentiert. Ich habe deshalb ganz bewusst die Perspektive eines Zeugen gewählt der also weder Opfer noch Täter ist, sondern nur versucht, sich ein möglichst objektives Bild zu verschaffen.

Kommen wir zurück zum Sender. RIAS TV wurde formal vom 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Ronald Reagan, gegründet als einen (Zitat) „ weiteren Schritt in der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit“. Das Programm ist also gleich zweimal staatsfinanziert: Vom US-amerikanischen und vom bundesdeutschen Staat. Es gibt zwei Hausherren, den US-Präsidenten, vertreten durch die USIS (United States Information Agency oder auch United States Information Service genannt) und das Gesamtdeutsche Ministerium in Bonn. Welchen Einfluss übten Bonn und Washington auf RIAS TV aus?

Ganz klar – gar keinen. Als einer der programmverantwortlichen Chefs vom Dienst und Abteilungsleiter kann ich feststellen: Es wurde nicht ein einziges Mal in meine Programmplanung eingegriffen. Auch meine Vorgesetzten, der Programmdirektor und der Chefredakteur, haben mir versichert, dass eine solche Einflussnahme nicht stattfand.

Am Anfang der RIAS-Radio-Zeit mag es das gegeben haben, aber der United States Information Service hat offensichtlich sehr schnell begriffen, dass es keinen Sinn macht, der unglaubwürdigen Agitprop aus dem Osten, ebenso unglaubwürdige Propaganda aus dem Westen entgegenzusetzen. Wenn RIAS für etwas Werbung gemacht hat, dann für unabhängigen, fairen Journalismus in bester angelsächsischer Tradition: Also ergebnisoffene Recherche, klare Trennung von Meldung und Meinung und faktenbasierte Berichterstattung. RIAS TV war so gesehen ein Gegenentwurf zu Eduard von Schnitzlers „Schwarzem Kanal“.

War möglichst objektive Berichterstattung für die Bürger der DDR also das Ziel des Senders?

Unbedingt. Wir wollten Berlin und das Umland über das damals modernste Medium, das Fernsehen, informieren. Die Bürger der DDR sollten ein realistischeres Bild über den Westen erhalten; eines das sich deutlich von Schnitzlers Zerrspiegel unterschied und natürlich wollten wir der Bevölkerung zeigen, was der Deutsche Fernsehfunk (DFF) nicht zeigen durfte: Berichte über die Entwicklung im Ostblock, vor allem in Moskau, Warschau und Budapest. Über die friedliche Revolution in der DDR, über die Massendemonstrationen und die Bürgerbewegung und die Aktivitäten der kirchlichen und der Umwelt-Organisationen. Journalismus in der DDR hieß ideologisch dominierte Berichterstattung Journalismus war ein Mittel des Klassenkampfes. Dem versuchten wir mit unabhängigem, unbestechlichem Journalismus entgegen zu treten.

Das ist ein hoher Anspruch. Konnten Sie den denn immer einlösen?
Nein. Wir waren unabhängig und wir waren unbestechlich, aber unsere Möglichkeiten waren auch begrenzt.

Die Reichweite endete nach rund 110 Kilomtern Luftlinie südlich etwa in den Raum Wittenberg-Dessau. Immerhin ein Gebiet mit fast sechs Millionen Einwohnern und fast 800.000 regelmäßigen RIAS-Zuschauern, wie das RIAS-Jahrbuch 1989/90 schreibt.

Aber wir hatten zunächst keinen eigenen Korrespondenten in der DDR, wir bettelten in Ost-Berlin meistens vergebens um eine Drehgenehmigung und wir mussten uns oft mit bebilderten Telefonschalten begnügen, um unsere Informationen zu verbreiten. Aber selbst diese fernsehuntypischen Formate waren für die Bürger wichtig. Das DFF servierte zu vielen dieser Themen nur ein tonloses „Schwarzbild“ – bildlich ausgedrückt.

Wie regierte man in der Parteispitze in Ost-Berlin auf das jüngste Kind des legendären RIAS?

Nicht eben freundlich. Der RIAS hatte sich in jahrzehntelanger Arbeit den Ehrentitel „Feindsender Nr. 1“ erworben. Dem TV-Kanal wurde die Ehre ungefragt ebenfalls zuteil. Ost-Berlin versuchte mit rund 60 Störsendern das West-Programm zu crashen und reimte sich einen Wolf, um den Sender zu diskriminieren: Der RIAS lügt war noch eine der netteren Behauptungen.

Wie kam das Programm an und aus welchen Elementen bestand es?

Der Zuspruch, der sich vor allem in Briefen ausdrückte, war enorm. Das war schon beim RIAS-Sonntagsrätsel so und auf dieselbe Weise (über Deckadressen) kamen wir auch an die Post.

Das Schwergewicht unseres Programms war das dreistündige Frühstücksfernsehen von 6 bis 9 Uhr. Eine bunte Mischung von Welt-, Deutschland- und Regionalnachrichten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Dazu kamen als Wachmacher am frühen Morgen Musik-Acts, Tiere live im Studio oder andere bunte Element.

Das kam offenbar an: Allein in Ost-Berlin lag die Quote für das Frühstücksfernsehen angeblich bei 29 Prozent.

Das Abendjournal (von 17:50 bis 18:28 Uhr) war ein klassisches News-Magazin mit Berichten, Interviews, Filmbeiträgen und Analysen in der bewährten Mischung Welt-Deutschland-Region.

Am Wochenende durfte sich die Jugendredaktion austoben, die mit „High Live“ Kultstatus in Berlin errungen hat.

Zusammengefasst darf ich sagen: ich bin schon ein wenig stolz darauf, was diese junge, nicht unbedingt allzu fernseh-erfahrene Crew geleistet hat. RIAS TV hat gezeigt, was man innerhalb kurzer Zeit mit begeisterungsfähigen und engagierten Mitarbeitern schaffen kann. Anfangs als Valium-TV verspottet, wurde RIAS TV – wenn man dem Kritiker der taz glauben will –zu einer Perle in der Berliner Medienlandschaft.

Im Mittelpunkt Ihres Buches steht der 9. auf den 10. November 1989? Können Sie diese Stunden auf den Punkt bringen?

Der Punkt heißt „Wahnsinn“. Ich habe 23 Stunden durchgearbeitet, hatte aber keine Sekunde Zeit für Müdigkeit übrig. Es ist einfach Wahnsinn, was in dieser Nacht geschah.
Es begann am Morgen als vier Leute aus dem DDR-Innenministerium ein neues Reisegesetz entwerfen sollten und dabei gleich die Mauer symbolisch einrissen. Mit dem Entwurf war die schärfste, gefährlichste Grenze der Welt – quasi mit einem Federstrich – zu einem offenen Tor geworden.

In seiner weltberühmten Pressekonferenz verkündete der schlecht informierte neue Regierungssprecher, Günter Schabowski, dann gegen 19 Uhr versehentlich an, dass die Ausreise “sofor, unvrzüglicht“ erfolgen könne.

Die Grenzorgane wurden von dieser Aussage ebenso überrascht und überrumpelt wie die Bürger der DDR. So dauerte es denn auch bis circa 23:30 Uhr, bevor die Schlagbäume wirklich hoch gingen.

Das Brandenburger Tor war nur zweieinhalb Stunden von 1:00 bis 3:30 Uhr nachts geöffnet. Dann bekamen die Grenztruppen Angst vor ihrer eigenen Courage. Menschenmassen, die durch das weltbekannte Symbol der Teilung rannten und der DDR den Rücken kehrten, das wollten sie nicht sehen.

Die Szene einer Novembernacht: Bärbel Reinke will einmal in ihrem Leben durch das Brandenburger Tor gehen: Aufrecht. und wieder zurück in die DDR. Bild: Ulrike Plesser(RIAS TV

Auf dem Titel meines Buches ist eine Frau abgebildet, die von einem Offizier ans Tor begleitet wird. Diese Frau, Bärbel Reinke heißt sie, ist für mich das Symbol dieser Nacht. Frau Reinke hatte getobt, geflucht, gebettelt und geweint: Einmal in ihrem Leben wollte sie durch das Brandenburger Tor gehen. Nur einmal und wieder umdrehen. Sie wollte nicht weg aus der DDR, aber sie wollte einmal aufrecht durch das Tor in den Westen gehen. Sie hätte überall die Grenze passieren können, aber nicht hier an diesem symbolträchtigen Ort. Aber genau deshalb wollte sie natürlich hier nach drüben gehen.

Das kleine Zeitfenster der Öffnung hatte sie verpasst. Doch irgendwann ließ sich ein Offizier der Grenztruppen erweichen. Wohl auch um zu vermeiden, dass die Wut der umstehenden Bürger explodierte. Das wäre unkontrollierbar geworden. Der Offizier musste klein beigeben. Eine einzelne Frau zwang dem Machtapparat des Staates zum Nachgeben. Wahnsinn.

Was hat sich für den Sender durch die Novembernacht 1989 geändert?

Einiges, nein – alles. Uns standen plötzlich alle Quellen offen, wir konnten jeden gewünschten Gesprächspartner einladen und an jeden Ort der DDR zum Drehen fahren. Es gab plötzlich Arbeitsbedingungen, von denen wir nicht einmal zu träumen gewagt hatten. Ganz normale Arbeitsbedidngungen. Am meisten aber hat mich verblüfft, wie sich Menschen – allen anatomischen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz – innerlich und äußerlich wenden konnten.

Das Internationale Pressezentrum (IPZ) in der Mohrenstraße, dass uns während der letzten beiden Jahre „betreut“ hatte, also im Prinzip nahezu jede Drehgenehmigung verweigerte, exakt diese Behörde rief wenige Tage nach dem 9. November an und fragte, ob wir unsere Zusammenarbeit nicht weiter optimieren könnten.

Der ehemalige Staatsvorsitzende, Egon Krenz, kam ins Studio und schreib eine Widmung für den ehemaligen Feindsender Nr. 1 in sein Buch: „Für RIAS TV“.

Und was mein Fassungsvermögen am meisten überstieg, das passierte am Morgen nach der Kommunalwahl in der DDR im Mai 1990. Ich wollte mit dem Auto nach einer Livesendung von Potsdam zurück nach Berlin, hatte aber meinen Ausweis vergessen. Das Grenzorgan in Staaken fragte mich erst nach den Papieren. Vergeblich. Und dann tatsächlich, ob ich ihn einen Moment vertreten könne, damit er meine mündlich gemachten Angaben telefonisch überprüfen könne. Ich – als Grenzorgan. Dass ich das erleben durfte – nach ungezählten Schikanen an der deutsch-deutschen Grenze. Jetzt wurde mir schlagartig klar, es wird doch noch was mit dem „Deutschland, einig Vaterland“.

Das „grenzenlose“ Deutschland bedeutete aber zunächst wohl auch grenzenlose Raubzüge durch die DDR mit ihren häufig auch noch recht blauäugigen, vertrauensseligen Bürgern?

Raubzüge – das ist der richtige Ausdruck. Die hochsubventionierten Produkte der DDR – manche Artikel waren bis zu 84 Prozent staatsfinanziert, galten bei skrupellosen Schnäppchen-Jägern als todsicheres Geschäft. Der ehemalige Wirtschaftsminister Günter Mittag, der diese Subventionen zu verantworten hatte, klagte später, die staatliche Unterstützung der Produktion sei das eigentliche Dilemma der DDR gewesen.

Die Einsicht kam reichlich spät. Jetzt drohte ein Ausverkauf der DDR. Westdeutsche Gewerkschaftsführer wie Franz Steinkühler warnten eindringlich davor, dass Arbeiter aus der DDR im Westen zu Ausbeuterlöhnen beschäftigt werden könnten. Darüber hinaus wurde das Land von windigen Geschäftemachern, selbsternannten Wundermanagern und einfachen Plattmachern regelrecht heimgesucht und ausgebeutet.

Die Treuhand spielte bei der Umwandlung der Planwirtschaft in das kapitalistische System keine wirklich gute Rolle. Nur zwei Zahlen: Auf 600 Milliarden D-Mark war der Wert der Wirtschaft der DDR geschätzt worden. Zum Schluss war dieser Wert nicht nur total abgewirtschaftet, es war sogar ein Verlust von 137 Milliarden D-Mark angehäuft worden. Was das für die Menschen bedeutet hat – es fällt schwer, dabei sachlich zu bleiben.

RIAS TV war nur dreieinhalb Jahre auf Sendung bevor der Sender zum deutschen Auslandsfernsehen (Deutsche Welle) wurde. Was bleibt von diesem Programm über den Tag hinaus?

RIAS TV war ein Medienexperiment; ein relativ kleiner Sender, mit teilweise fernseh-unerfahren Mitarbeitern und erheblich beschnittenen Arbeitsmöglichkeiten . Und dieser Sender sollte ein Stück Lufthoheit im Kalten Krieg zurückgewinnen, sollte ideologisch dominierten Mitteilungen, sachliche, faktenbasierte Informationen entgegensetzen. Was alle überrascht – das Experiment gelang.

Ins Heutee , eine Zeit, die unter Blasen-Intelligenz und Fake-News leidet, habe ich mir die Hoffnung bewahrt, dass auf Dauer Fakten stärker sind als Fakes und sachliche (gerne auch unterhaltsam präsentierte) Informationen über Propagandasprüche dominieren werden.

Ganz persönlich: Für mich war RIAS TV die wichtigste, prägendste und bewegendste Zeit meines journalistischen Lebens. Ich bin dankbar, dass ich diese Jahre gemeinsam mit so vielen wunderbaren Kolleginnen und Kollegen verbringen durfte.

*Wilfried Hub

ist Verleger der letzten noch bestehenden, selbständigen, unabhängigen ostdeutschen Tageszeitung, die zur Wendezeit gegründet worden war: dem “Vodegtland-Anzeiger”. Hub ist gelernter Journalist und war vor der Übernahme des Vogtland-Anzeigers Chefredakteur bei der “Freien Presse” in Chemnitz ( bis 1997), dann Chefredakteur bei der “Braunschweiger Zeitun”g, dann Geschäftsführer bei der Nachrichtenagenagentur “ddp”.