Flucht aus und vor der Republik

Beiträge zur Zeit- und Mediengeschichte – Folge 04

Wie viel Leid erträgt ein Mensch, bis er Freunde, Familie, Hab und Gut hinter sich lässt, um anderswo ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu führen? Fast vier Millionen DDR-Bürger zogen eine ungewisse Zukunft im Westen einem gesicherten, aber bedrückenden Leben in ihrem vormundschaftlichen Staat vor. Sie begingen – nach DDR-Lesart – „Republikflucht oder stellten Anträge auf dauerhafte Ausreise und wurden dafür diskriminiert und kriminalisiert.

Da die Flucht über die Demarkationslinie nur unter Lebensgefahr möglich war, suchten viele Asyl in den westdeutschen Botschaften. Der Strom der Menschen, die dem Sozialismus den Rücken kehrten, riss nicht ab. Schließlich gab die SED auf und kapitulierte vor ihrem eigenen Volk.

Inhalt

  • Fast vier Millionen auf der Flucht
  • Die Flucht-Motive
  • Nicht vorgesehen: Ausreise-Antrag
  • Ausreise und KSZE-Schlussakte
  • Republikflucht
  • Flucht als Verbrechen
  • Der Schießbefehl
  • Opfer und Täter
  • Botschaftsflüchtlinge
  • Ohne Visa nach Prag
  • Grenzöffnung in Ungarn
  • Genscher in Prag

Abstract

Nicht zuletzt durch die Abstimmung der DDR-Bürger mit den Füssen, brach der SED-Staat zusammen.  Vom 7. Oktober 1949 bis Juni 1990 verließen rund 3,8 Millionen Menschen die DDR. Das entspricht der Einwohnerzahl von Kroatien. 400.000 kehrten zurück.

Die wichtigsten Motive

  • Fehlende Meinungsfreiheit,
  • politischer Druck, 
  • begrenzte Reisemöglichkeiten,
  • schlechte Versorgungslage,
  •  schlechte Zukunftsaussichten, –
  • Familienzusammenführung,
  • Neustart (Quelle Befragung von 5000 DDR-Übersiedlern 1984)

Vor allem jüngere, besser qualifizierte Menschen verließen das Land. Damit drohte die DDR auszubluten, zu überaltern und ökonomisch geschädigt zu werden.

Wie konnte man die DDR verlassen?

Eine offizielle Ausreise war nur mit einem Ausreiseantrag (Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR) möglich. Aber: Grundsätzlich war eine solche Ausreise gesetzlich nicht vorgesehen. Der Antrag wurde folglich wie ein „Regelwidriges Ersuchen“ (RWE) behandelt. Er war offiziell auch deshalb nicht akzeptabel, weil der Antragsteller damit seine Ablehnung des „real existierenden Sozialismus“ dokumentierte. 

Dennoch stellen Hunderttausende einen solchen Antrag. Nach dem Mauerbau, zwischen 1961 bis 1988 reisen 480.000 Menschen legal aus. 1989 verließen rund 344.000 Menschen die DDR. Davon 102.000 legal mit einem genehmigten Ausreiseantrag. (Quelle: Statista) Mehr Menschen hatten in einem Jahr noch nie die DDR verlassen. Dieser Verlust in einem Jahr entspricht der Einwohnerzahl von Städten wie Bochum oder Wuppertal.

Welche Folgen hatte ein Ausreiseantrag?

Eine offizielle Bearbeitung des Antrags durch die DDR-Bürokratie war nicht vorgesehen. Folglich gab es auch keine Begründung für eine Zustimmung oder Absage. Stattdessen wurden in den Monaten, oft Jahre dauernden Verfahren regelmäßige Aussprachen bei Stasi, Betrieb und Staatsorganen durchgeführt.

197 befahl Stasi-Chef Mielke zur Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung feindlich negativer Handlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu verhindern.

Dazu sollten Gesinnung, Charakter, Lebensgewohnheiten, berufliche Funktion, Motive und Verbindungen der Antragsteller umfassend „aufgeklärt“ werden. Zuständig dafür war vor allem die bei der Stasi angesiedelte „Zentrale Koordinierungsgruppe Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung“.

Ausreisewillige mussten damit rechnen, diskriminiert und kriminalisiert zu werden. Sie riskierten insbesondere den Verlust des Arbeitsplatzes.

KSZE-Schlussakte

Falls Jemand sich bei der „Aussprache“ auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 und/oder auf Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948 berief, drohte dem Ausreisewilligen die Einstufung als „feindlich-negative Person“ bei der Staatssicherheit.

Auszug aus der KSZE-Schlussakte:

  •     „1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
  •     2. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“

Folgen für die DDR

Für die DDR war die Genehmigung einer Ausreise kurzfristig ein Vorteil, weil sie Unruheherde minimieren konnte, langfristig ein Nachteil, weil sie vor allem jüngere, gut qualifizierte Personen verlor.

Wege aus der DDR

Der Ausreiseantrag war also eine mühsame, aber reale Möglichkeit die DDR zu verlassen. Der Vorgang dauerte allerdings Monate, oft Jahre, in denen der Antragsteller zahlreichen Anfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt war.

Republikflucht – ungesetzlicher Grenzübertritt

Neben der legalen Auswanderung, blieb nur die Flucht oder das Erreichen des Rentenalters, um die DDR zu verlassen. Bei einer (missglückten) Flucht riskierte man eine lange Freiheitsstrafe oder sogar sein Leben.

Die Soldaten an der Grenze und an der Berliner Mauer hatten die Anweisung auf Flüchtlinge scharf zu schießen.

Der Tatbestand der Republikflucht wird im Strafgesetzbuch der DDR im (§ 213 StGB) definiert:

  • (1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert …wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren … bestraft.
  • (3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft.

Ein schwerer Fall liegt vor, wenn die Tat mit „besonderer Intensität“ gemeinsam mit anderen oder mit Hilfe von Täuschung und Falschaussagen vorgenommen wurde. Das Oberste Gericht der DDR und der Generalstaatsanwalt hatten als Beispiel für einen „schweren Fall“ die Nutzung von „Steighilfen zur Überwindung der Grenzanlagen“ aufgeführt.

Die Bedeutung von Absatz 3 des § 213

Die Grenzanlagen der DDR waren so perfektioniert, dass sie kaum zu überwinden waren; schon gar nicht ohne Hilfsmittel, Täuschungen und Versteckmöglichkeiten. Das bedeutete aber dass der Absatz 3 faktisch zum Normalfall wurde, der Freiheitsstrafen von über zwei Jahren zuließ. Das Strafmaß wiederum bestimmte die Unterscheidung von Vergehen und Verbrechen.

 Als Verbrechen galten Straftaten, die mit mehr als zwei Jahren Haft belegt werden konnten. Jetzt kommt das „Grenzgesetz“ der DDR ins Spiel. Im „Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik „(Grenzgesetz). Mai 1982) wird in § 27 definiert, wann die Anwendung von Schusswaffen erlaubt, ist:
(1) Die Anwendung der Schusswaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung

(2) Die Anwendung der Schusswaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind.

Noch einmal zur Verdeutlichung: Kommt Absatz 3 (schwerer Fall) zur Anwendung, dann liegt ein Verbrechen vor, das die „Vernichtung“ nach DDR-Lesart rechtfertigt.

Staatliche Schießbefehle 

Lange vor der juristischen Regelung erteilten Politiker und Offiziere Schießbefehle. Erich Honecker, 20. September 1961, Generalsekretär und Staatsrats-Vorsitzender, bei der Lagebesprechung des „Zentralen Stabes“:

„Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, dass Verbrecher in der 100-m-Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schussfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.“

Verteidigungsminister, General Heinz Hoffmann,
6. Oktober 1961  -: Befehl an Grenztruppen:

Die Grenztruppen der DDR seien verpflichtet die Schusswaffe nach Zuruf und Warnschuss sofort scharf anzuwenden und Flüchtende zu vernichten, wenn sie nicht auf andere Weise festzunehmen seien.

„Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren.“  (August 1964)

Erich Honecker: Von der Shussaffe rücksichtslos Gebrauch machen

Erich Honecker,
Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 3. Mai 1974:

„Es muss angestrebt werden, dass Grenzdurchbrüche überhaupt nicht zugelassen werden […] überall muss ein einwandfreies Schussfeld gewährleistet werden […] nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“

Die für die Grenzsicherung zuständigen Dien-Stellen des Verteidigungs-Ministeriums erhielten jährlich einen Ministerbefehl, die sogenannten 101-Befehle. Hier tauchte 1962 erstmals die Formulierung „Vernichtung des Gegners“ auf.

Die Formulierung wurde dann in die Vergatterungsformel beim täglichen Wachaufzug der Grenztruppen der NVA übernommen.

Die Vergatterungsformel ab 1967 lautete:

  • „Grenzdurchbrüche sind nicht zuzulassen, Grenzverletzer sind vorläufig festzunehmen oder zu vernichten.“

Im April 1989 wurde der Schießbefehl aufgehoben.

Opfer des Schießbefehls

Nach Angaben der Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität kamen 421 Personen an der Innerdeutschen Grenze ums Leben. Das Mauermuseum am Checkpoint Charlie geht hingegen von bis zu 1245 Getöteten aus.

An der Berliner Mauer wurden bisher 136 Personen als Todesopfer des Grenzregimes erfasst. Andere Quellen sprechen von 78 Todesfällen. In diesen Zahlensind allerdings auch Fälle erfasst, die nicht von Grenzsoldaten erschossen worden sind.

Die Täter

38 Todesschützen sind der Berliner Justiz namentlich bekannt. Der erste sogenannte Mauerschützen-Prozess begann November 1992 in vor dem Landgericht in Berlin.

Gegen Erich Honecker, Erich Milke und Willi Stoph konnte wegen mangelnder „Verteidigungsfähigkeit der Angeklagten“ nicht verhandelt werden. Verurteilt wurden:

Heinz Keßler, Verteidigungsminister, zu 7 1/2 Jahren Haft wegen Totschlags

Fritz Strelett, stellvertretender Verteidigungsminister, 5 ½ Jahre wegen Totschlags und

Hans Albrecht, 1. Sekretär Bezirksleitung SED Suhl, verurteilt zu 5 ½ Jahren Haft wegen Totschlags.

Im März 1994 wurde Anklage gegen zehn Offiziere im Generals- oder Admiralsrang erhoben. Bei sechs Angeklagten wurde das Verfahren wegen Alter oder Krankheit eingestellt. Vier Offiziere wurden verurteilt. Die Strafen reichten von einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung bis hin zu drei Jahren und drei Monaten.

Via Prag in die Freiheit

Tausende von DDR-Bürgern sahen in den bundesdeutschen Botschaften in Ost-Berlin, Budapest, Belgrad und Warschau ihre letzte Chance, die DDR zu verlassen. Allein über die Prager Botschaft gelang es 1989   über 12.000 Menschen der DDR zu entkommen. 

Erste Botschaftsflüchtlinge

Schon vor 1989 hatten DDR-Bürger immer wieder versucht, in westdeutschen Botschaften Asyl zu finden. Nachweisbar ist das seit 1984 als sechs, später 155 DDR-Bürger die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin „besetzten“.  

Dieser Fluchtweg war insofern optimal, als die BRD die DDR-Staatsbürgerschaft nicht anerkannt hatte und die Flüchtlinge deshalb als „Deutsche“ galten, die sich jetzt auf   dem Campus der Botschaft, also auf dem Gebiet der Bundesrepublik befanden.

Prag als Ziel Nr. 1

Von den ausländischen deutschen Botschaften wurde die Prager Villa Lobkowicz am stärksten genutzt, weil DDR-Bürger ohne Visum in die CSSR einreisen konnten.

Bereits 1985 hatten deshalb über 2000 Bürger via Prager Botschaft ihre Ausreise erzwungen.

Die CSSR reagierte zunehmend gereizter auf den Ansturm der DDR-Bürger. Auch die anderen sogenannten Bruderstaaten machten Druck auf die Regierung in Ost-Berlin. Die DDR solle endlich selbst ihre Probleme lösen und nicht alle anderen Ostblockstaaten belasten.

Die Botschaftsflüchtlinge waren somit ein entscheidender Grund, die Grenze zu öffnen

Grenzöffnung in Ungarn

Nachdem Ungarn ab dem 2. Mai 1989 seine Grenzen geöffnet hatte, verbot Ost-Berlin Reisen in diesen Bruderstaat. Die DDR-Bürger versuchten deshalb in den Botschaften Warschau und vor allem in Prag Zuflucht zu finden.

Selbst als die Prager Botschaft wegen Überfüllung geschlossen worden war, drängten immer mehr Menschen in das Palais Lobkowicz Schließlich waren es fast 4000 Ausreisewillige, die auf dem Botschaftsgelände ausharrten. Die Verhältnisse waren katastrophal, sogar Seuchengefahr bestand.

Genscher in Prag

Am 30. September verkündete Außenminister Genscher dann vom Balkon der Villa, dass die Ausreise genehmigt, worden sei. Allerdings mussten die 4000 Botschaftsflüchtlinge aus Prag und weitere 809 aus der Botschaft in Warschau mit Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn durch (DR) die DDR in den Westen fahren. Es kam zu dramatischen Zwischenfällen bei der Durchfahrt in den Bahnhöfen. Zahlreiche DDR-Bürger versuchten die Züge zu entern, um in den Westen zu gelangen.

Der Sturm auf Prag hält an

Doch der Ansturm auf die Prager Botschaft hielt an. . Die Menschen durchbrachen die Polizeisperren und kletterten über die Zäune, um aufs Gelände zu kommen. Schließlich wurde auch diesen Menschen die Ausreise genehmigt und so konnten etwa 7600 Ausreisewillige in die Bundesrepublik übersiedeln.

Politik via Visa

Als weiterhin Tausende versuchten die DDR zu verlassen, führte Ost-Berlin auch für die CSSR die Visumspflicht ein.  Die Grenze war damit dicht. Das führte zu erheblichen Unruhen in der Bevölkerung und die Regierung hob am 1. November die Visumspflicht wieder auf.

 Die CSSR öffnete nun ebenso wie Ungarn den Eisernen Vorhang und erlaubte den DDR-Bürgern   die Durchreise in den Westen. Die Folge: Täglich stiegen Tausende in die Züge nach Prag, um in den Westen zu fliehen.

Diesem Druck versuchte die DDR mit einem weiteren Reisegesetz zu begegnen. Am 9. November verkündete sie: Jedermann kann über die Grenzübergänge der DDR das Land vorübergehend oder ständig verlassen.

Die DDR hatte vor ihren Bürgern kapituliert.

Gerhard Specht, Berlin, 2023