Rote Optik im “Schwarzen Kanal”

Beiträge zur Zeit- und Mediengeschichte – Folge 08

Immer wieder montags öffnete Karl-Eduard von Schnitzler die Schleusen seines „Schwarzen Kanals“ und entließ seine Hass-Tiraden und Schmähungen in den Äther. Schnitzler war die Sperrspitze im kalten Medien-Krieg zwischen Ost und West und der Name seiner Sendung ein Synonym für übelste Propaganda sozialistischer Machart. 1519-mal strahlte der DFF (Deutscher Fernsehfunk) die bekannteste und umstrittenste Polit-Sendung des Landes aus. Im Westen versuchte Gerhard Löwenthal mit seinem „ZDF-Magazin“ polemisch zu konkurrieren.

Schnitzler ist heute vor allem ein Beispiel für die Sichtweise eines kalten Kriegers, der von der östlichen, sozialistischen Seite auf die Geschichte Deutschlands geblickt hat. Ein Beispiel dafür, wie unversöhnlicher Hass und unbeirrbares Festhalten an einmal gewonnenen Überzeugungen ein menschenverachtendes System für Jahre stabilisieren können. Dabei sind Schnitzlers Methoden in totalitären Systemen heute so verbreitet wie damals.

Inhalt

  • 30 Jahre Indoktrination
  • BBC-Start – Neue Heimat: Ost-Berlin
  • Schnitzlers journalistisches Selbstverständnis
  • Die Methode Schnitzler
  • Beispiele zu Differenzierung – Objektivität
  • Sozialistische Logik – Verdrehung – Umdeutung
  • Schnitzler und der Begriff “Opposition”
  • Anfang und Ende einer Karriere
  • Ab jetzt – Klartext
  • Das neue DDR-Lebensgefühl

30 Jahre Indoktrination

Fast 30 Jahre lang lässt der DFF montags, nach dem beliebten UFA-Spielfilm einen schwarz-rot-goldenen Adler auf den Antennen des Westfernsehens landen. Der Vogel symbolisiert den unterstellten Revanchismus Westdeutschlands und ist quasi das Wappentier des schwarzen Kanals, durch den die rückwärtsgewandte, kapitalistische, Propaganda der Bundesrepublik in deutsche Haushalte fließt; rückwärtsgewandt wie das Deutsche Kaiserreich, über dem bekanntlich eine schwarz-rot-goldene Flagge wehte.

Sendungs-Logo im DFF

Zum Glück für die DDR und den Sozialismus (Achtung, Ironie) gibt es im Osten einen Klärwärter, der die braune Flut analysieren und bekämpfen kann: Karl -Eduard von Schnitzler. Der Chefpropagandist der DDR kann von seinem Sessel aus, die „westlichen Lügen“ entlarven und durch „sozialistische Wahrheiten“ ersetzen. Auf diese Weise versucht Schnitzler zu beweisen, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen ist.

Dazu spielte er – oft aus dem Zusammenhang gerissene – Film-Schnipsel von ARD und ZDF ein und behauptete dann, diese Bilder zeigten, wie ein imperialistischer, faschistischer und ausbeuterischer Kapitalismus die Menschen im Westen belüge und unterdrücke.

Gelegentlich wies Schnitzler allerdings auch auf Missstände in der Bundesrepublik hin, wie im Fall des Frühschoppen-Moderators, Werner Höfer. Der bekannte WDR-Journalist hatte seine „braune Vergangenheit“ im Dunkeln gehalten, bis Artikel aus dem Dritten Reich auftauchten, in denen er die Hinrichtung eines 27jährigen mit blumigen Worten rechtfertigte. Der junge Mann hatte Zweifel am „Endsieg“ der Nazis geäußert.

Das waren Ausnahmen. Der rote Faden im „Schwarzen Kanal“ bestand aus Hasstiraden wider den Klassenfeind, verbunden mit Hymnen an die unfehlbare Sozialistische Einheitspartei.

Die Quoten der Sendung wurden nicht veröffentlicht, lagen aber am Anfang in den 60er Jahren im deutlich zweistelligen Bereich. Sie sanken dann ab Ende der 70er Jahre und landeten bei drei bis fünf Prozent vor Einstellung des „Kanals“ am 30. Oktober 1989.

Wandel der Zielgruppe

Zielgruppe der Sendung waren zunächst die Bürger der Bundesrepublik, dann richtete sich Sudel-Ede (DDR-Jargon) vor allem an die „Genossen und Genossinnen“ in der DDR. Vor allem Offiziere der NVA (Nationale Volksarmee) und der Stasi, denen der Konsum von Westfernsehen verboten war. Zu den Zielgruppen gehörten außerdem Lehrer, Journalisten   und Parteifunktionäre, die als Multiplikatoren dienen sollten.

Die Beliebtheit des Moderators hielt sich offenbar auch in der DDR in engen Grenzen. Es gab Sprechchöre mit „Schnitzler in die Produktion“ oder „Schnitzler in die Muppet-Show“ oder Verballhornungen wie „Karl-Eduard von Schni“. Der Namensrest sollte anzeigen, wann die Zuschauer beim „Schwarzen Kanal“ abzuschalten pflegten.

Von den 1519 Ausgaben der Sendung sind nur wenige erhalten. Schnitzler ließ angeblich alle Filmausschnitte schon wenige Tage nach Ausstrahlung vernichten. Erhalten geblieben sind aber die meisten Moderations-Unterlagen und der Schriftwechsel zur Sendung. Die Materialien lagern im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Frankfurt/Main, Mainz und Potsdam-Babelsberg.

Der Kanal-Arbeiter

Karl-Eduard von Schnitzler war das Gesicht des „Schwarzen Kanal“, aber wer war Karl-Eduard von Schnitzler? Der spätere Agitator und Propagandist der SED (geb. 1918 in Berlin) stammte aus einer einflussreichen, großbürgerlichen Kölner Familie.

Der Vater war ein hoher preußischer Beamter. Einer der Vettern von Schnitzler war schon fünf Jahre vor der Machtergreifung der Nazis, einer der führenden Hitler-Bankiers. Ein anderer Cousin hatte als Direktor der IG Farben die Lieferverträge für Zyklon-B unterschrieben. Mit diesem Giftgas wurden KZ-Insassen vernichtet. Schnitzler lakonisch: „Ich habe noch ein paar von dieser Sorte“ in der Verwandtschaft.“ (zitiert nach Peter Lude „DDR-Fernsehen intern“). Einige „von der Sorte“ wurden später als Kriegsverbrecher verurteilt.

Karl-Eduard von Schnitzler im “Schwarzen Kanal”

Schnitzler pfiff – Protest oder Überzeugung? – auf seine Privilegien und trat 1932 – mit 14 Jahren – der „Sozialistischen Arbeiterjugend“ (SAJ) bei.   Diese Gemeinschaft scheint ihn zeitlebens geprägt zu haben. Schnitzler wurde Kommunist und blieb es. Unbeirrbar, unbelehrbar, unbeeindruckt vom Wandel der Zeit.

Start bei der BBC

Der Journalist Schnitzler sprach 1944, nach seinem Übertritt zu den Engländern, seinen ersten Beitrag für die BBC in London. Von da an gings bergauf:  Die Briten setzen ihn im Januar 1946 als ersten Intendanten und Leiter der politischen Abteilung des NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk Hamburg, Köln) ein.

Der NWDR und der kurz darauf gegründete RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin) sowie der (Ost-) „Berliner Rundfunk“ waren die ersten Rundfunkanstalten im Nachkriegsdeutschland. Aus dem NWDR wurden später der WDR und der NDR.

Schon nach 14 Monaten aber setzte ihn der „Geburtshelfer“ des neuen Rundfunk-Journalismus in Nachkriegs-Deutschland, Hugh Carlton Green, fristlos vor die Tür. Der Grund: Ein Übermaß an kommunistischer Propaganda in Schnitzlers Beiträgen.

Neue Heimat: Ost-Berlin

Seine politische und journalistische Heimat fand Schnitzler dann beim „Berliner Rundfunk“, der von der sowjetischen Besatzungsmacht geleitet wurde. In Ost-Berlin hatte ihn schon Kommentator Markus (Mischa) Wolf, der spätere Geheimdienst-Chef der DDR, erwartet. Wolf verschaffte seinem Gesinnungsfreund sofort eine Festanstellung und Schnitzler wurde beim Radio und bald auch beim Fernsehen der bekannteste und gleichzeitig umstrittenste Journalist des zweiten deutschen Staates.

Journalistisches Selbstverständnis

„Die Berührungsangst vor Scheiße ist ein Luxus, den sich der Kanalarbeiter nicht leisten kann“ (Leitsatz des Schriftstellers Karl Magnus Enzensberger). Schnitzler hatte keine Berührungsängste. Seine Kommentare waren „hämisch, aggressiv, arrogant, besserwisserisch und aufdeckend, dabei – vor allem aus heutiger westlicher Sicht – augenscheinlich falsch“, schreibt Horst Rörig in „Hygiene im Äther“.

Differenzierung

„Differenzierung“ war – zumindest bis zur Politik der friedlichen Koexistenz – Schnitzlers Sache nicht. Der „Schwarze Kanal“, so Schnitzler, „war ein Produkt des Kalten Krieges und am Anfang brauchten wir nicht zu differenzieren. Da konnte ich montags alle Feinde in einen Sack tun, zumachen und draufhauen, immer in der Gewissheit den richtigen zu treffen“ (zitiert nach Peter Ludes, 1990, „DDR-Fernsehen intern“).

Objektivität

Für das Bemühen um „Objektivität“ hatte Schnitzler nur Verachtung übrig. Es sei denn, es handelte sich um Objektivität, wie der Kanalarbeiter sie verstand: „(Ich habe mich) um Objektivität und Parteilichkeit – was kein Widerspruch ist – immer bemüht“ (zitiert nach Wolf Bierbach, Autor).

Diese Erklärung ist zumindest – überraschend. Objektivität ist – laut Duden – „nicht von Gefühlen, Vorurteilen bestimmt; sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch“.  Also schon per definitionem ist Objektivität das genaue Gegenteil von Parteilichkeit.

Bierbach meint: „Das journalistische Selbstverständnis Karl-Eduard von Schnitzlers setzt sich in erster Linie aus Widersprüchen zwischen objektiven und subjektiven Sichtweisen zusammen.“

Und: „Eine solche Paradoxie zieht sich durch sein gesamtes publizistisches Schaffen.“ Offen bleibe dabei aber die Frage, ob seine Aussage in bewusster Überzeugung oder unbewusster Verblendung erfolgt sei.

Schnitzler war ein „sozialistischer Journalist“, dessen Funktion und Auftrag beispielsweise im „Wörterbuch des sozialistischen Journalismus“ klar definiert ist.

„…daraus leitet sich die Grundaufgabe der Presse ab, nämlich als   Propagandist, Agitator und Organisator zu wirken.“

Objektivität im westlichen Verständnis widerspräche dieser Aufgabe. (Siehe auch „DDR: Die Presse und die Partei“ auf dieser Seite).

Damit löst sich der Widerspruch für linientreue „sozialistische Journalisten“, wie Schnitzler es nach eigenem Bekenntnis war, auf. Nach ihrem Selbstverständnis ist die Partei unfehlbar, solange sie für die richtige Sache eintritt, ihre Politik folglich alternativlos. Denn: „Wer kämpft für das Recht, der hat immer Recht“ (SED-Hymne).

Daraus folgt nach der sozialistischen Logik:  1. Wenn „objektiv“ für objektive Tatsachen steht und 2. die Partei stets Recht hat, dann ist 3. Parteilichkeit objektiv.

Das klingt logisch, aber da die 2. Prämisse falsch ist, ist auch die Schlussfolgerung falsch; zumindest für Menschen, die der sozialistischen Logik – im Gegensatz zu Schnitzler – nicht folgen.

Verdrehung

Die „sozialistische Logik“ ermöglichte Sudel-Ede (DDR-Jargon) auch Widerstände gegen die Partei als Widerstand gegen den eigentlichen Volkswillen abzuqualifizieren.

Beispiel Juni-Aufstand

Der 17. Juni 1953 beispielsweise war, wenn man Schnitzler folgen will, kein Aufstand gegen Preiserhöhungen und die Unterdrückung durch die SED. Es seien nicht die Bauarbeiter aus der Stalinallee gewesen, die gegen die 10,3-prozentige Erhöhung der Arbeitsnormen (Arbeitsleistung) die Proteste ausgelöst hätten, sondern…

…der Aufstand war – so der SED-Agitator – das Ergebnis zwielichtiger Mächte aus dem Westen. Zitat: „„… es wurde von bezahlten Provokateuren, vom gekauften Abschaum der Westberliner Unterwelt ein Anschlag auf die Freiheit, ein Anschlag auf die Existenz, auf die Arbeitsplätze, auf die Familien unserer Werktätigen versucht“.

 Der Aufstand wurde von sowjetischen Panzern niedergerollt.

Beispiel Mauer-Opfer

Von 30 Schüssen getroffen verblutete der 18jährige Peter Fechter               am 17. August 1962 bei einem Fluchtversuch an der Mauer. Er hatte bereits den ersten Stacheldraht und den zehn Meter breiten Todesstreifen der Grenzanlage überwunden. Als er die Mauer fast erreicht hat, fallen Schüsse. Fechter bricht zusammen, schreit um Hilfe, aber keiner hilft ihm.

Todeskampf im Stacheldraht. Foto: Polizei

Die Grenzsoldaten sehen tatenlos zu, die Augenzeugen auf der Westseite sind machtlos; ohnmächtig vor Wut, vom Opfer durch eine Mauer getrennt.  Die alliierten Soldaten dürfen und können nicht eingreifen. Als Fechter nach einer Stunde kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, wird er von den Grenzsoldaten weggetragen.

Der Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Schnitzler, höhnt: „Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben, dann kann man sich Blut, Tränen und Geschrei sparen.“ Und über das Opfer? „Ein angeschossener Krimineller.“

36 Jahre später darf Schnitzler im Westsender „TV Berlin“ den Fall Fechter noch einmal kommentieren. Er bleibt seinen Methoden treu: Das Opfer ist der Täter und der Westen ist schuld, dass der junge Mann verbluten musste.

Zitat: „Da versucht ein junger Mensch, die Grenze zu verletzen …die westlichen Kameraleute haben damals peinlich ausgespart, wer da rechts und links stand, da standen Engländer, Amerikaner … mit Pistolen und Karabinern und zielten auf unsere Soldaten, die Fechter aus dem Stacheldraht herausholen sollten.”

Umdeuten

Im schwarzen Kanal hat Schnitzler selbstredend die Definitions-Hoheit. Er deutet die Welt, wie er und die Partei sie sehen.

Im folgenden Beispiel habe ich einen Beitrag aus dem „Schwarzen Kanal“ vom 1. April 1968 transkribiert, um die Methode Schnitzler deutlich zu machen.

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/1968/-,panorama11016.html

Schnitzler nutzt die Aussage eines Kommunalpolitikers (Ernst Fischer, CDU, aus Kornwestheim) zum Thema Opposition, um seinen Landsleuten in der DDR zu erklären, warum „Opposition“ im Arbeiter- und Bauernstaat völlig fehl am Platze ist.

Der Beitrag beginnt, wie immer im „Kanal“ mit einem Ausschnitt aus dem Westfernsehen:

„Schließlich ist es notwendig, Möglichkeiten einer Opposition gegen das Establishment, einer Opposition gegen Führungsgremien zu garantieren.“ (Ernst Fischer, CDU).

Auftritt Schnitzler

Dann erscheint Schnitzler: Ruhig, aber irgendwie überheblich, oberlehrerhaft. Er hat sich eingedreht, der Kamera zugewandt, aber scheint dennoch distanziert. Er doziert, belehrt, die Moderation wird zur Verkündigung:

„Opposition – untersuchen wir, was Opposition in der DDR bedeuten würde. Schauen Sie, bei uns in der DDR ist Frieden zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, zum Regierungsprogramm erhoben worden. Opposition gegen diese Politik unserer Regierung würde Kriegs Politik bedeuten. Was gibt es Drittes?

Regierungspolitik ist es bei uns, den Lebensstandard systematisch zu heben, ohne große Sprünge, ohne über die Verhältnisse zu leben, ohne Verschuldung, ohne politische Abhängigkeit vom Ausland. Opposition dagegen würde Schwankung, Krisen und, jenen Abbau sozialer und demokratischer Rechte bedeuten, der zum Beispiel in Westdeutschland zu verzeichnen ist.

Regierungspolitik heißt bei uns: Entwicklung der sozialistischen Demokratie. Opposition dagegen würde bedeuten, Ende unserer Mitbestimmung, Ende unserer sozialistischen Demokratie, Wahlen wie in Bonn, wo mit christlich- demokratischen Wahlzetteln unchristliche und anti-demokratische Atompläne und Notstandsgesetze aus der Wahlurne gezaubert werden. Und mit sozial-demokratischen Wahlzetteln Handlungs- und Erfüllungsgehilfen des Imperialismus.

Wir in der DDR bestimmen unseren Kurs selbst, überwinden Schwierigkeiten und Mängel und meistern die Zukunft mit unserer Volksinitiative, mit unseren Volkswahlen, mit unseren Volksentscheiden und einer so breiten, ständigen demokratischen Mitarbeit, wie sie Ernst Fischer offensichtlich nicht kennt.

Gegen unsere sozialistische Friedensarbeit opponieren zu wollen, würde bedeuten: Verbrechen zu begehen. Verbrechen am Sozialismus, Verbrechen am Frieden, Verbrechen am Volk. Und mit solcher Opposition setzen wir uns nicht an der Wahlurne und nicht im Parlament auseinander, sondern vor den Gerichten unserer sozialistischen Justiz.“

Alle Achtung, das ist rhetorisch vom Feinsten. Schnitzler nutzt die allgemein gehaltene Aussage eines CDU-Politikers (Ernst Fischer), um seinen Landsleuten deutlich zu machen, warum Opposition in der DDR ein Verbrechen gegen das Volk sei.

In einer Parteien-Diktatur kommt Opposition einem Angriff auf die Führungsrolle der Partei gleich, was – nach sozialistischem Verständnis – einem Angriff auf den Staat entspräche.

Schnitzler poltert also aus durchsichtigen Gründen wider Andersdenkende. Sein Problem:  Nach der Verfassung der DDR darf jeder Bürger frei seine Meinung äußern (wenn er sich an die Vorgaben der Partei hält). Schnitzler muss also einen rhetorischen Dreh finden, um zu zeigen, dass es dieses Recht zwar gibt, aber in der DDR gar nicht genutzt werden muss, weil die Partei schon alles im Sinne des Volkes geregelt hat. Die Politik der SED ist – nach Schnitzler – alternativlos, eine Diskussion darüber – überflüssig, ja kontraproduktiv und gefährlich.

Der Moderator führt deshalb Beispiele an, deren Ziele grundsätzlich unstrittig sind. Welcher vernunftbegabte Mensch wird schon für Krieg und gegen Frieden sein? Wer in aller Welt wird behaupten, dass die Steigerung des Lebensstandards nachteilig für die Bürger sei?

Der rhetorische Trick funktioniert allerdings nur, wenn man die richtigen Beispiele auswählt. Bei den sattsam bekannten Problemen in der Wirtschafts- und Umweltpolitik, bei den Bürgerrechten oder gar beim Schießbefehl oder bei den sogenannten freien Wahlen in der DDR – sähe das völlig anders aus.

Aber die Kunst der PR, auch der PR für die SED, besteht ja gerade darin, die positiven Seiten zu beleuchten und alles andere im Dunkeln zu halten. Getreu dem Brecht-Motto: Die im Dunkeln sieht man nicht.

Anfang und Ende

Anfang der 60er Jahre tobt in Europa der kalte Krieg. 1961 wird Ulbricht in Berlin eine Mauer bauen und das letzte Schlupfloch von Ost nach West verschließen. In der Welt stehen sich zwei feindliche, bis an die Zähne bewaffnete Blöcke gegenüber. Damals, am 21. März 1960 geht der „Schwarze Kanal“ auf Sendung. Und sofort poltert Schnitzler gegen den Feind im Westen:

“Der Schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unrat und Abwässer; aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müsste, ergießt er sich Tag für Tag in hunderttausende westdeutsche und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: Der Schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen.”

Ender der 80er Jahre hatte sich die Welt gewandelt. Doch Glasnost, und Gorbatschow ließen Schnitzler unbeeindruckt zurück. Für die Bürgerbewegung in der DDR hatte er nur tiefe Verachtung übrig. Sie war für ihn vom Westen organisiert, um die Struktur des Staates von innen heraus zu zerstören: Ein Großangriff auf den sozialistischen Friedensstaat.

Am 30. Oktober 1989 wurde der „Schwarze Kanal“ vom DFF abgeschaltet. Schnitzler verabschiedete sich mit folgenden Worten:

„Der Revanchismus bleibt uns erhalten. Der Klassenkampf geht weiter.“ Und als Resümee: „Einige mögen jubeln, wenn ich diese Fernseharbeit nun auf andere Weise fortsetze. Nicht, dass ich etwas zu bereuen hätte. Ich werde meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen. Auf Wiederschauen.“

Ab jetzt – Klartext

Ironie der Geschichte. Auf dem Sendeplatz des Chef-Propagandisten begann die Wende vor der Wende im Deutschen Fernsehfunk (DFF). Das wichtigste Instrument der SED für Propaganda und Indoktrination wurde abgeschaltet, auf dem Sendeplatz erschien „Klartext“ Das war nicht nur ein Titel, das war ein Versprechen. Von nun an sollte in der DDR – noch vor der Maueröffnung – Klartext gesprochen und gesendet werden.

Schon die erste Folge am 6. November 1989 war ein Tabubruch. Statt heiler, sozialistischer Welt zeigte die Redaktion den Film „Ist Leipzig noch zu retten?“, in dem der Verfall der Bausubstanz in der Vorzeige- und Messestadt dokumentiert wurde.

Das neue Lebensgefühl

Zwei Tage zuvor, am 4. November, hatte der DFF in einer Sondersendung die Massen-Kundgebung am Berliner Alexanderplatz mit rund einer halben Million Menschen gezeigt. Der Schriftsteller und Sozialist, Stefan Heym, fasste unter dem Jubel Hunderttausender das neue Lebensgefühl in der DDR in folgende Worte:

„Es ist, als ob einer die Fenster aufgestoßen hätte nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasen-Gewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“

Dem Chefpropagandisten und Agitator der SED weinte die Partei keine Träne nach. Im Gegenteil. Die SED (seit Mitte Dezember 1989 PDS) leitete schon im Januar 1990 ein Parteiverfahren gegen den „Vorkämpfer“ der sozialistischen Sache ein. Schnitzler tritt aus der Partei aus und bei der DKP (Deutsche Kommunistische Partei) ein.

Im „Spiegel“ darf er noch einmal verkünden, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen sei und im nächsten Jahrhundert die Oberhand gewinnen werde. Schnitzler stirbt 2001 an einer Lungenentzündung.

Gerhard Specht, Berlin, 2023